Schule der zweiten Chance

End of pipe

d'Lëtzebuerger Land vom 05.03.2009

In der dritten Klasse blieb Pedros zum ersten Mal sitzen. Das hohe Lerntempo, die zwei Fremdsprachen Deutsch und Französisch überforderten das portugiesische Immigrantenkind. Mit den Jahren wuchsen Überforderung und schulischer Misserfolg:  Pedro schwänzte den Unterricht, prügelte sich mit anderen Jungs. Es folgten Disziplinarstrafen, schließlich flog er von der Schule. Auch in der neuen Umgebung wurden die schulischen Leistungen nicht besser. Entnervt brach er die Schule ab. Mit 17 Jahren, ohne Diplom.Pedro ist fiktiv, das Phänomen der Schulabbrecher ist es leider nicht. Zwar ist der Anteil derer, die die Schule ohne Abschluss verlassen, einer Untersuchung des Unterrichtsministeriums zufolge zwischen 2003 und 2007 von 17,2 auf 9,4 Prozent gesunken, sei es, weil sie wieder in die Schule gehen, eine Lehrstelle gefunden haben oder eine Weiterbildung besuchen. „Ob es ihnen gelingen wird, beim erneuten Versuch, einen Abschluss zu machen, darüber sagt die Studie nichts aus“, räumt Statistikerin Manon Unsen aus dem Unterrichtsministerium ein. 

300 bis 500 Jugendlichen pro Jahr gelingt der eigenständige Weg zurück in die Ausbildung aber nicht. Ihnen will Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) mit einer Schule der zweiten Chance auf die Sprünge helfen, die ab Herbst 2010 voraussichtlich in Luxemburg-Hamm die Türen öffnen soll. Das pädagogische Konzept klingt zunächst überzeugend: Ein individuelles Programm, Lernmodule und Portfolio statt Lernen im Gleichschritt und Noten sollen dem Jugendlichen ermöglichen, in seinem Rhythmus ohne Überforderung zu lernen (d’Land, 19.12.2008). Zwei Jahre hat er Zeit, den Anschluss an bestehende Ausbildungen – Schule, Beruf oder Weiterbildung – zu schaffen; die Schule der zweiten Chance stellt selbst keine Diplome aus. Externe Berufsberater und eine enge Zusammenarbeit mit der Betriebswelt helfen, die 16- bis 24-Jährigen auf das Leben nach der Schule vorzubereiten. Im Gegenzug verpflichten er und seine Eltern sich vertraglich, sich aktiv einzubringen. 

Den Vertrag erhält ein Schulabbrecher nicht automatisch. Um einen der 350 Ausbildungsplätze zu bekommen, müssen Interessierte ihre Motivation in einem Bewerbungsgespräch unter Beweis stellen. „Wir möchten sichergehen, dass der Schüler bei uns eine reelle Chance hat“, erklärt Sozialpädagoge Carlo Welfring, der im Unterrichtsministerium das pädagogische Konzept verfasst hat. Das ist nicht unproblematisch: Werden beim Zugang zu strenge Selektionskriterien angesetzt, riskieren Abbrecher, ein weiteres Mal durchs Netz zu fallen. Man werde niemanden wegen schlechter Noten abweisen, aber „die Eigenverantwortung ist wichtig“ so Welfring, der zugibt, dass die Auswahl eine Gratwanderung sei: „Wir wollen keine Eliteschule für Schulabbrecher gründen, aber auch keine missverständlichen Anreize schaffen“. Auch die Chambre des salariés stellt in ihrem Gutachten die Frage nach der Verantwortung: allerdings die der Betriebe. Wenn 30 Prozent der Jugendlichen die Schule verlassen, weil sie keine Lehrstelle finden, wie kann die  Schule der zweiten Chance da Abhilfe schaffen? Welfring verweist auf positive Erfahrungen im Zusammenhang mit den Coip-Klassen (cours d’orientation et d‘initiation professionnelle), bei denen rund die Hälfte der Kursteilnehmer nach einem Jahr ein Niveau erreiche, das eine klassische Berufsausbildung zulässt. Aber finden sie dann auch Lehrstellen?

Diese Unklarheiten wären Grund genug, das mit vier Millionen Euro veranschlagte Projekt genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch nach wochenlangem Ringen um die Reform der Primärschule, die von der politischen Opposition abgelehnt wurde, ist bei den Politikern die Luft offenbar raus. Bisher habe es keine „größeren Einwände“ gegeben, so der DP-Abgeordnete Eugène Berger am Mittwoch im Anschluss an die Unterrichtskommission. Anders die Handelskammer, deren Ausbildungsbeauftragter Paul Emering grundsätzliche Töne anschlägt: „Wir müssen präventiv handeln und nicht kurativ.“ Viele Schüler bekämen im gegenwärtigen Schulsystem oft nicht einmal eine erste Chance eingeräumt. 

Das ist überspitzt, bringt das Problem aber auf den Punkt: Die Schule der zweiten Chance zäumt das Pferd von hinten auf. Indem sie an die Motivation der Jugendlichen appelliert, läuft sie zudem Gefahr, ihnen die Hauptschuld am Scheitern zuzuweisen. Ausgeblendet wird, dass die Regelschulen entscheidend dazu beitragen, das unzählige Jungen und Mädchen die Lust am Lernen verlieren. Der Großteil der Abbrecher, 75 Prozent, hat nicht einmal einen CATP-Abschluss. Viele kommen aus sozial benachteiligten, nicht-luxemburgischen Elternhäusern, die das Schulsystem nicht oder nicht genügend kennen. Jeder vierte ist mindestens einmal sitzen geblieben. 

Was aber geschieht nach zwei Jahren Intensivbetreuung, wenn der Schüler oder die Schülerin zurück an die Regelschule geht, um dort den Abschluss nachzumachen? Dort trifft der Jugendliche auf die alten Hindernisse: Frontalunterricht statt differenzierte Lehrmethoden, wechselnde Lehrer statt persönlichere Betreuung und Beratung, Notendruck statt Zeit, eigene Projekte zu entwickeln. Allmählich wird zwar auch der Sekundarunterricht auf Kompetenzen umgestellt, an der überholten Praxis in vielen luxemburgischen Klassenzimmern ändert das aber wenig. Man prüfe derzeit mögliche Partnerschaften mit anderen Schulen, so Carlo Welfring, dem das Problem des Übergangs wohl bewusst ist. 

Andernfalls bleibt die Möglichkeit, das Abitur via E-Bac online zu erwerben, die Berufsausbildung oder die Erwachsenenbildung.  Wie reformbedürftig der Sekundarunterricht und auch die (Berufs-) Orientierung sind, zeigt ein Blick in nationale Statistiken: Die Versetzung nach der 10e technique générale schafft noch immer jeder zweite Schüler nicht im ersten Anlauf. Auch Ferienarbeiten versprechen kaum mehr Erfolg. Mit Misserfolgsquoten von 50 bis 70 (!) Prozent stellt die Sinnfrage dieser Nachprüfungen. „Alle befragten Experten/-innen fordern zumindest ein Überdenken der Nachprüfungen oder gehen sogar so weit, die Nachprüfungen ganz abzuschaffen“, schrieb die Autorin der Klassenwiederholerstudie, Gitta Landgrebe, bereits 2006. Ihre Forderung lautete damals: „eine Verstärkung der individuellen Förderung“ und die „Verpflichtung zur Erstellung von Förderplänen“. Drei Jahre später sieht das neue Primärschulgesetz einen plan de réussite und mehr Autonomie für die Grundschule vor, für den Secondaire existiert aber nicht einmal ein flächendeckender Förderansatz. 

Dabei hatte die Unterrichtsministerin selbst mehrfach betont, Reformen im Secondaire seien dringend notwendig. Zuletzt am Mittwoch in der Parlamentskommission. Aber ein Reflexionspapier über die Fortführung der Lernzyklen nach der Primärschule ist seit dem Gehälterstreit mit den Sekundarschullehrern 2007 in der Versenkung verschwunden. Verbindlich vorgeschrieben ist nur die rémediation. Aber ob diese Fördermaßnahmen sowie die cours d’appui wirklich zu besseren Schulresultaten führen, weiß niemand so genau: Ihre Wirksamkeit wurde nie ernstlich überprüft. Aus dem régime préparatoire, ursprünglich geschaffen, um besonders Lernschwache zu fördern und ihnen doch noch eine Berufsausbildung zu ermöglichen, schafft jeder zweite Schüler den Absprung wegen zu schwacher Leistungen nicht. Und obwohl Bildungsexperten mehr Ganztagsschulen empfehlen, gerade um sozial benachteiligte Risikoschüler zu fördern, gibt es diesbezüglich keine Strategie. Von integrativen Gesamtschulkonzep­ten ganz zu schweigen.

Einige Schulen haben deshalb eigene Projekte entwickelt, um ihren Sorgenschülern besser unter die Arme zu greifen. In so genannnten Mosaik-Klassen des Lycée technique in Bonneweg werden verhaltensauffällige Nachzügler in kleinen Lerngruppen von Erziehern, Lehrern und Psychologen betreut, um dann bei Besserung in ihre vorige Klasse reintegriert zu werden. So erfolgreich ist das 2002 ins Leben gerufene Projekt, dass mittlerweile weitere Schulen auf den Zug aufgesprungen sind. Eine nationale Ko­ordination der bemerkenswerten Einzelaktionen fehlt aber bis heute. Derweil doktert das Ministerium an Plänen, den Übergang von der 9e zur 10e neu zu organisieren (d’Land, 19.12.08). Stärker differenzierte Sprachanforderungen sollen auch weniger Sprachbegabte eine Berufsausbildung erlauben. Dem Eltern-Dachverband Fapel geht das nicht weit genug. Sie vermisse ein „klares Förderkonzept“, so Präsidentin Michèle Retter gegenüber dem Land

Doch während in Deutschland Elternverbände, Lehrer und Schulleitun­gen in Brandbriefen öffentlich die frühe Auslese der Kinder beklagen und das dreigliedrige Schulsystem (und besonders die „Sackgasse Hauptschule“) nicht länger hinnehmen wollen, während französische Gewerkschaften gegen Pläne der UMP-Regierung auf die Straße gehen, die Eltern von chro­nischen Schulschwänzern mit Kürzungen der Sozialleistungen disziplinieren will, bleibt es in Luxemburg erstaunlich ruhig. Nur die konservative Lehrergewerkschaft Apess wettert in einer Resolution zum wiederholten Male gegen die 2005 erfolgte Reform der Promotionskriterien. Die sind mit dem neuen Kompetenzansatz tatsächlich schwer zu vereinbaren – Klassennoten sagen über den Lernprozess eines Einzelnen kaum etwas aus –, aber um eine kritische Reflexion über Sinn oder Unsinn des 60-Punktesystems geht es der Apess gar nicht. Sie wünscht sich in alte Zeiten zurück, obwohl sie es besser wissen müsste: Den Effekt der Promotionskriterien, das zeigen die Versetzungsstatistiken, haben die Lehrer in ihren Bewertungen längst wieder kompensiert. Nachdem nach der Reform etwas mehr Schüler versetzt wurden, hat sich die Misserfolgsquote wieder auf das alte, hohe Niveau eingependelt. 

Bei so viel Beharrungsvermögen verwundert dann auch nicht mehr, dass die Politik das heiße Eisen grundlegender Reformen nach der Primärschule lieber nicht anpackt und stattdessen auf Reflexionspapiere und End-of-pipe-Lösungen setzt. Wobei auch sie nicht konfliktfrei zu haben sind: Sollte die Land-Information stimmen, dass das Lehrpersonal der Schule der zweiten Chance, ähnlich wie beim Neie Lycée für die Betreuung der Schüler 30 Stunden in der Schule bleiben sollen, ist der nächste Streit mit den Gewerkschaften vorprogrammiert. Da mag es noch so viele, echte Pedros geben. 

Ines Kurschat
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