Nationalbibliothek und Nationalarchiv

Die „Hunnen“

d'Lëtzebuerger Land vom 08.08.2014

Als eines der harmlosesten Kriegsverbrechen, welche deutsche Truppen während des Ersten Weltkriegs in Belgien begingen, brannten sie am 25. August 1914 vorsätzlich die Bibliothek der Katholischen Universität von Louvain nieder. Dadurch zerstörten sie 300 000 Bücher, eine der großen Inkunabel-Sammlungen Europas und rund 1 000 Manuskripte, darunter den Codex Parcensis, die Opera von Renier de Liège und Autografen von Thomas von Kempen und Dionysius dem Kartäuser.

Aber es muss nicht immer der Krieg sein. Hundert Jahre später ging in der Nacht vom Dienstag zum Mittwoch vergangener Woche ein Unwetter mit heftigen Regengüssen über weiten Teilen des Landes nieder. Feuerwehr und andere Rettungsdienste mussten rund 250 Mal ausrücken, um überschwemmte Keller auszupumpen und umgestürzte Straßenbäume aus dem Weg zu räumen, zwei Wohnhäuser gerieten durch Blitzschläge in Brand. In einer Industriezone in Bartringen drangen größere Mengen Regenwasser durch einen ungeschützten Schacht in einen Lagerraum. Diesen Lagerraum müssen sich das Nationalarchiv und die Nationalbibliothek teilen und darin ist ein Teil des wertvollsten Bestands der Nationalbibliothek, ein Teil ihrer Réserve précieuse, untergebracht.

Die Gruft stand knöcheltief unter Wasser, es erreichte fast die unteren Regale. Es war reiner Zufall, dass für ein Mal keine der besonders sperrigen Missalia mangels geeigneter Aufbewahrungsmöglichkeiten auf dem Fußboden und damit eine Nacht im Wasser lagen, die mittelalterliche „Elefantenbibel“ gerade an das Germanische Natio­nalmuseum ausgeliehen worden war. Es war auch Zufall, dass das Unwetter nicht an einem Freitagabend niederging und die Überschwemmung so erst am Montag entdeckt worden wäre. Dann wäre vielleicht ein Teil der Zimelienabteilung schon mit Schimmelsporen infiziert gewesen. Immerhin waren diese Rara der Nationalbibliothek bei ihrem Umzug nach Bartringen für einen Mil­lio­nenwert versichert worden. Am gleichen Ort gelagerte Mikrofilme des Nationalarchivs wurden schon nach einer Nacht durch die Feuchtigkeit unbrauchbar. Die Konservatoren mussten die der Feuchtigkeit ausgesetzten Bestände in einen ebenso ungeeigneten Nebenraum schaffen, die Direktorinnen beider Häuser wandten sich hilfesuchend an ihre Ministerin.

Oberflächlich ist der Grund für diese haarsträubenden Zustände, dass das Parlament vor 16 Jahren einen Bibliotheksneubau beschlossen, der Fonds Belval vor elf Jahren den Auftrag zum Bau eines neuen Archivgebäudes vergeben hatte, aber das neue Archiv nie gebaut wurde, erst vor sechs Wochen der Spatenstich für einen Bibliotheksneubau erfolgte. So lange mussten und müssen die beiden Institutionen weiter mit ihren Sammlungen in Altbauten, Lagerhallen, Läden und unterirdische Parkhäuser umziehen, von einem kostspieligen Provisorium in das andere. Da längst nicht alle Werke und Dokumente katalogisiert sind, dürften manche am Ende der Odyssee unauffindbar bleiben. Ganze Abteilungen des Nationalarchivs sind derzeit unzugänglich; die in einem feuchten Keller von Schimmel befallene historische Schulbuchsammlung der Nationalbibliothek kann seit vier Jahren nicht mehr benutzt werden.

Die tieferen Ursachen für diese Verhältnisse sind eine Geringschätzung des schriftlichen und allgemein des intellektuellen Erbes, eine politisch verständliche Feindschaft gegenüber dem, was das schriftliche Gedächtnis des Staats und der Gesellschaft ausmacht. Maßen die konservativen Kulturministerinnen noch der Konservierung historischer Bausubstanz eine gewisse Bedeutung bei, so ließen Bücher und Dokumente sie weitgehend ungerührt. Die neue liberale Regierung übt sich nun gut gelaunt in einer demonstrativ antiintellektuellen Pose, die Populismus und Sparpolitik aufs Trefflichste vereint. Womit man wieder bei der Universitätsbibliothek von Louvain wäre.

Romain Hilgert
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