Mademoiselle Julie

Eine Nacht, zu hell für Märchenträume

d'Lëtzebuerger Land du 11.05.2012

Dem naturalistischen Drama der skandinavischen Vertreter Hendrik Ibsen und August Strindberg aus dem 19. Jahrhundert wird generell unterstellt, den genretypischen Ansprüchen nach Emile Zola oder Arno Holz nicht zu entsprechen. Mit Strindbergs Mademoiselle Julie zeigt sich vielmehr, dass das Augenmerk auf andere Elemente gerichtet ist. Es ist weniger die hygienische und materielle Misere der Arbeiterklasse, die im Vordergrund steht, sondern die psychologische und soziologische Gegenüberstellung des Unten und Oben. Strindberg spielt die allmähliche Dekadenz der aristokratischen Macht, die nur auf statuarischen Mustern beruht, gegen die psychische Stärke des Individuums aus.

Strindbergs 1888 verfasstes naturalistisches Trauerspiel Mademoiselle Julie handelt von einer jungen, adligen Dame, die sich anlässlich der Sommersonnenwende um die Johannisnacht auf ein Abenteuer mit einem Bediensteten ihres Vaters, Jean, einlässt. Im Fortlauf des Morgens schmieden beide gemeinsame Zukunftspläne und denken an eine Flucht in die Schweiz. Es ist dabei nicht erstaunlich, dass sich die sozialen, aber auch charakterlichen Differenzen als Hindernis herausstellen. Die Fluchtpläne erweisen sich als Trugschluss, als Hirngespinst. In ihrer Verzweiflung wählt sie den Freitod.

Frédéric Fisbach inszenierte dieses Drama für das Festival d’Avignon. Erste Stimmen in den französischen Medien richten sich vor allem gegen so manche fragwürdige Entscheidung seiner Regieführung. Und diese birgt in der Tat Schwächen. Eine zentrale wird in den Anfangsszenen deutlich. Wer ins Theater geht, möchte Schauspieler agieren sehen, die Modulation ihrer Stimme bewundern, eine möglichst unmittelbare Erfahrung erleben, gerade auch dann, wenn ein Talent wie Ju-liette Binoche die Hauptrolle übernimmt. Da aber die Ideen der Regie dieser Natürlichkeit im Wege stehen, wird sich in den ersten 30 Minuten Mikrofonen bedient. Es ist nachvollziehbar, das seelische Gefängnis, in dem sich Julie und die Bediensteten befinden, mit einem überdimensionalen Glaskäfig zu illustrieren. Wenn aber Einfälle des Regisseurs Grundsätze des künstlerischen Genusses konterkarieren, dann muss das Regietheater dahinter zurückstehen. So ist es kein Wunder, dass der berühmte Funke erst dann auf das Publikum überspringt, als das Mikrofon aus, die Stimme echt und die Distanz aufgehoben ist.

Darüber hinaus legt Fisbach zu viel Gewicht auf die komische Komponente des Trauerspiels. So wird so manche Szene mit Komik gelöst, deren Tragik weiterer Spannung bedarf, so etwa, als sich Jeans materialistischer Pragmatismus (die Notwendigkeit eines Startkapitals) gegen die träumerischen Fluchtpläne beider Liebenden richtet. Ein Traum droht zu platzen, die Erkenntnis ist komödiantisch unterlegt.

Haarscharf an der Grenze zum unfreiwillig Komischen und doch wirksam erweist sich der leitmotivische Auftritt märchenhafter Figuren: Ein Bediensteter tritt mit schneeweißem Hasenkopf, ein weiterer mit einer Art Tannenkostüm im selben Ton auf. Sie erinnern an die ständige Traumwelt, in der sich sowohl das Personal als auch die ausbrechende Julie bewegen, um die frustrierende Gegenwart leichter ertragen zu können. Das Einbetten dieser Märchenfiguren in die von himmelhohen, blätterlosen Birken gestemmte Helligkeit dieses längsten Tages ist nicht statisch. Was anfangs noch eine Metapher für Lebenshunger und Hoffnung ist, erweist sich später in drohendem Gedröhne als Motor seelischer Frustration: die Dekonstruk-tion eines Hirngespinsts.

In den von Fisbach souverän gesteuerten Drohkulissen agiert aber vor allem Juliette Binoche herausragend. Ihr seelisches Hin und Her, in der Presse etwas voreilig zum „weiblichen Hamlet“ erweitert, drückt sich in starrem Blick, in hektischen Konvulsionen, in ruckartigem Zusammensinken aus. Im ständigen Schlagabtausch zwischen ihr und Nicolas Bouchaud verleiht sie ihrer Figur aufreibende Gegenpole von Naivität, Glücksuche, Verzweiflung und Rückständen ihres klassentypischen Weltbildes. Bouchaud trägt zu viel Komik auf. Fraglos aber gewinnt der Umschwung im Machtgefüge in einer Mischung aus überzeugender Kulisse und darstellerischer Finesse an Gestalt.

Letztendlich kann in dieser kritischen Auseinandersetzung nur bestätigt werden, was die französische Presse bereits wusste: Sind der Regie kapitale Fehler anzulasten, so verbucht sie auch besonders originelle Einfälle. Juliette Binoche wird ihrem großen Namen gerecht.

Mademoiselle Julie von August Strindberg; eine Produktion des Festival d’Avignon; Regie von Frédéric Fisbach; Dramaturgie von Benoît Résillot; Licht und Kostüme von Laurent Berger; Kulisse von den Festival-Ateliers; mit Juliette Binoche, Nicolas Bouchaud, Bénédicte Cerutti. Keine weiteren Vorstellungen.
Claude Reiles
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