Wagner, Guy: Winterreise

Vierundzwanzig Spuren im Schnee

d'Lëtzebuerger Land du 16.02.2006

Mit einem gewaltigen, aufwühlenden Sprachfluss, gehetzten Silben und hastenden Worten tastet sich Guy Wagner an Franz Schubert heran. Die Ehrfurcht vor dem Komponisten und die Leidenschaft für seine Musik machen es dem Autor, Melomanen und Musikforscher nicht einfach. "Darf ich Dich überhaupt mit Franz anreden?" fragt er zaghaft in den Anfangszeilen seines biografischen Romans Winterreise. Noch im Lauf seines ersten großen Atemzuges freundet sich Guy Wagner mit Schubert an: aus "Franz Peter" wird "lieber Franz". Beim nationalen Literaturwettbewerb wurde Guy Wagners Roman Winterreise mit dem ersten Preis ausgezeichnet. In 24 Kapiteln durchstreift der Autor das Leben und Schaffen des berühmten Komponisten und zieht Parallelen zu den 24 Liedern des Zyklus Winterreise. Franz Schubert wurde am 31. Januar 1797 geboren. "Fremd bin ich eingezogen" heißt das erste Gedicht der Winterreise, wie auch das erste Kapitel des Romans. "Eingezogen" ist er in Lichtental bei Wien, in ein miefendes Arbeiterviertel. Der Vatter, wie ihn die Kinder nannten, war ein strenger Lehrer, die Mutter die unbemittelte Tochter eines Schlossers. Im verschneiten Lichtental sucht Guy Wagner in der zweiten Person nach den Spuren von Franz Schubert: "niemand  hatte Dich gefragt, nur lösten Deine Schreie die Deiner Mutter ab". In ärmlichen Verhältnissen wuchs der kleine Franz mit zehn Geschwistern auf. Neun weitere starben bereits sehr jung. In diesem Elend kommen die Kinder nicht "zur Welt", sie werden "in die Welt hinaus gestoßen", "und wenn wieder eines der Kleinen stirbt, vögelt Herr Lehrer Schubert ein neues zusammen". Hier wird Guy Wagners Sprache karg wie das Milieu der Schuberts. Nicht umsonst ist die Lichtentaler Kirche den vierzehn Nothelfern geweiht. Wagner zählt sie auf, Augen zwinkernd, und geht in die barocken Details des mit Putten und Engeln überladenen Hochaltars, vor welchem Schubert die Taufe gespendet wird. Christophorus wird angefleht gegen unvorbereiteten Tod. Sarkastisch bemerkt Wagner: "Franz, das kannst Du nicht wissen, aber heute ist er der Schutzpatron der Autofahrer, und die trifft der Tod meist unvorbereitet." Der stille Komponist mit der Harry Potter-Brille hat es ihm nicht einfach gemacht. "Ach, so viele haben über Dich geschrieben, aber trotz aller Exegeten, wissen wir so wenig von Dir", schreibt Guy Wagner, als sei Schubert ein alter, aber mysteriöser Bekannter. 1827, ein Jahr vor seinem Tod, komponierte Franz Schubert die Winterreise nach Texten des Dessauer Dichters Wilhelm Müller. Der Liederzyklus scheint wie die Wanderung eines Weltflüchtigen durch eine winterlich erstarrte Seelengegend. Die Lieder erzählen in Metaphern von gefrorenen Tränen, dem Traum von Ruhe und Wärme und der geheimnisvollen Begegnung mit dem Leiermann. Auf eben einer solchen Wanderung begleitet Guy Wagner in seinem Roman Franz Schubert und zeichnet den holprigen Weg des Komponisten an Hand literarischer Quellen und Zitate, die sich mit frei erfundenen Dialogen abwechseln. Im vierzehnten Kapitel verschmilzt Wagner selbst mit seinem Romanhelden. Ganz diskret wird aus dem Du der Ich-Erzähler: Hier, inmitten von Rotlicht und Nebelschwaden, holt sich Schubert die vernichtende Syphilisinfektion, die sein Leiden bis zu seinem Tod an einer Typhuserkrankung begleiten wird. Im Puff denkt er an den Herrn Vatter: "Lassen Sie mir diese Wärme." Überhaupt ist der Konflikt mit dem Übervater bei Guy Wagner allgegenwärtig. Bewegend schildert er Schuberts ernsthaften Versuch, sich zu emanzipieren. "Herr Vatter, wenn ich jetzt mit Ihnen rede, ist es von Mann zu Mann", sagt Franz, nach seiner ersten Liebesnacht. Das erste Mal war in einer lauen Sommernacht in Ungarn, auf dem Sitz der Esterházys. Welch knisternde Erotik hat Guy Wagner da zu Papier gebracht! "Nichts als Wärme,... eine Wärme, die Du nie gekannt hast." Mit der Wärme, die Schubert später bei Minona, der Dirne, aufsucht, hat das nichts zu tun. Aber auch der Gang ins Bordell ist ein Versuch, die Ketten mit dem Vater zu sprengen.  Guy Wagners Schubert-Biographie ist sorgfältige Geschichts- und Musikforschung einerseits, inspirierte und unterhaltsame Fiktion andererseits. Sensibel, einfühlsam und an Hand zahlreicher liebenswerter Details beschreibt Guy Wagner die Welt der "Schubertianer": die Freundschaft zu Franz von Schober, die Abende mit Spaun und Mayrhofer, die Begegnung mit Hüttenbrenner und Vogl.Winterreise. Roman ist aber auch ein Plädoyer für Freiheit und Gerechtigkeit. Denn Guy Wagners Revolte auf die Begebenheiten des Wien um die Wende zum 19. Jahrhundert ist heftig - auf die Kindersterblichkeit aus Mangel an Hygiene, die Zerbrechlichkeit der wie am laufenden Band geschwängerten Frauen, die Zeit der Naderer, der Spitzel des Polizeichefs Josef Graf Sedlnitzky von Choltitz, der Bildung und Freigeisterei 1817 den Kampf ansagte oder Metternichs Attacken auf die Pressefreiheit. Das alles ist geschichtlich fundiert, aber äußerst kurzweilig erzählt, narrativ und doch unglaublich poetisch. Guy Wagners Winterreise ist eine schöne, ganz persönliche Widmung an Franz Schubert.

Guy Wagner: Winterreise. Roman; Éditions Phi, Esch, 2005; 25 Euro; ISBN 2-87962-206-9

 

Marc Fiedler
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