Écoles en mouvement

Wie der Leuchtturm

d'Lëtzebuerger Land vom 18.09.2008

Auf den ersten Blick liest sich das Dokument L’approche par compétences au sein d’écoles en mouvement wie ein typisches, von grauen Technokraten geschriebenen Arbeitspapier: Von drei Phasen ist die Rede – Einführung, Umsetzung, Institutionalisierung –, von „Zielen“ und „Strategien“. Es wimmelt von Spiegelstrichen und  Unterpunkten. Und in der Einleitung stehen pädagogische Binsenweisheiten wie „jedes Kind ist lernfähig“ oder Wortungetüme wie „planification stratégique“ und „planification évolutive“. 

Und doch ist dieses Gemeinschaftsdokument von Mitarbeitern aus dem Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques (Script) und der Primärschulabteilung im Unterrichtsministerium der Schlüssel zur 1912-er-Reform. Denn auf 28 Seiten erläutern die Autoren ihre Strategie, wie aus wohlklingenden Absichtserklärungen echte Veränderung wird: Sie setzen auf den Multiplikatoreffekt. Wie der berühmte Stein im Wasser, der erst kleine, dann immer größere Kreise zieht, sollen mutige Pionier-Schulen die Kernideen der Reform umsetzen, erste Erfahrungen sammeln und, falls sie gut sind, diese an andere Schulen weitergeben. Angefangen beim kompetenzorientierten Unterricht in Lernzylen, über Teamarbeit und Elternbeteiligung bis hin zum Portfolio. 

Fünf Schulen – Befort, Bourglinster, Grousbous, Roodt-Syre und Schifflingen – wagen den freiwilligen Selbstversuch, inhaltlich und finanziell vom Ministerium angeschoben, das bewusst komplette Schulen ins Programm aufgenommen hat: Man hofft so, Reibungsverluste durch bremsen­de Spielverderber im Lehrerkollegium zu vermeiden. Jeder soll wissen, worauf er oder sie sich einlässt. Die Herausforderung ist schon so groß genug. Denn um vom Alleswisser, der vom sicheren Pult den Unterricht zentralistisch lenkt, auf den Lerncoach und den „Provider“ von Lernsituationen umzusatteln, müssen die Lehrer erst einmal selbst die Schulbank drücken. In Fortbildungen mit ausländischen Experten, wie dem Salzburger Unterrichtsforscher Hermann Astleitner, lernen sie ihre diagnostischen Kompetenzen schärfen: Was braucht welches Kind, um optimal zu lernen? Wie helfe ich Überfliegern? Oder Nachzüglern? Dem Gespenst der heterogenen Schülerschar soll der Schrecken genommen werden.

Auch das pädagogische Handwerkszeug, die Unterrichtsmethoden, wird dafür generalüberholt. Wer in jahrgangsübergreifenden Zyklen auf jeden Schüler einzeln eingehen will, ohne in Stress und Hektik unterzugehen, muss anders Schule halten: mit gestaffelten Anforderungen, mit kollektiv verwalteten Aufgabenpools, mit Teamteaching. Erste Fortbildungen haben begonnen, das Echo war sehr positiv. Weitere Kurse sind für Herbst und Winter geplant. Wer dann noch immer nicht genug hat, dessen Schule/Gemeinde kann beim Ministerium maßgeschneiderte Fortbildungen bestellen. Staatliche Aufbauhilfe mit dem Ziel, die Schule als lernende Einrichtung aufzubauen, bis diese nach und nach zum Selbstläufer wird. Ein mit Unterstützung der Uni Luxemburg erstelltes „Schulprofil“ soll helfen, präzise erkennen, was die Schule – und die Schüler brauchen und wo die Entwicklungspotenziale liegen. Die Qualitätsagentur guckt, ob die Ergebnisse stimmen.

Das alles geht natürlich nicht von allein. Neben einer Steuerungsgruppe im Ministerium, die das Projekt auf nationaler Ebene leitet, koordiniert ein aus Gemeindevertretern, Inspektorat und Lehrerkomitee zusammengesetzter Rat „seine“ Pionierschule auf lokalem Niveau. Nicht zentralistischer Dirigismus soll den Takt bestimmen, sondern die kommunalen Schulakteure selbst. Das funktioniert nur, wenn alle bereit sind, eine Hand anzupacken, alte Gewohnheiten zu hinterfragen – und, wo nötig, Hilfe von außen anzunehmen. In Netzwerken sollen sich die Schulen austauschen, die Idee wurde von der Laborschule Eis Schoul übernommen, die bei den Écoles en mouvement aber nicht dabei ist. Das Ministerium setzt bewusst auf Regelschulen, so kann später niemand mosern, „normale“ Schule hätten keine Chance gehabt. Wenn alles klappt, wäre das Netzwerk auch das Gravitationszentrum, von wo die eigentliche Bewegung aus startet: Nach einer Einarbeitungs- und Probezeit, das Ministerium rechnet mit drei bis fünf Jahren, könnten die fünf Schulen wie Leuchttürme anderen den Weg zeigen.

So weit, so prima. Durch das Strategiepapier beugt das Ministerium Kriti­ken vor, Technokraten würden gut gemeinte Vorschläge machen, aber nicht an deren Realisierbarkeit denken. Wie wichtig es ist, einen klaren Plan zu haben, wohin die Reise gehen soll und wer das Schiff steuert, zeigt das Projekt Werteunterricht des Neie Lycée. Dort liegt noch immer keine Strategie auf dem Tisch, wie die Lehren aus dem isolierten Einzelprojekt auf die nationale Ebene übertragen werden können. Was es den Gegnern leicht macht, den Modellversuch klein zu reden.

Mit dem Arbeitspapier ist der Kurs zumindest inhaltlich klar gesteckt –  und trotzdem gibt es Lücken: So neuartig der Ansatz für Luxemburg ist, Schulen als starke Partner aufzubauen und sie von Anfang an an der Konzeption und der Umsetzung zu beteiligen – auch bei den Écoles en mouvement stößt der Mitbestimmungsgedanke an alt bekannte Grenzen: Die Eltern  sind kaum mehr als Zaungäste; außer Feste organisieren und sich irgendwie am Aktionsplan beteiligen, den jede Schule jährlich ausarbeiten soll, gibt ihre job description wenig her. Im Conseil de projet, der zwischen Gemeindeebene und Schule vermittelt, sind sie nicht vorgesehen und auch auf nationaler Ebene bleibt ihnen das Steuerrad verwehrt. Wer weiß, vielleicht erklärt sich die diesbezügliche Wortkargheit dadurch, dass der Leitfaden über Nacht mit heißer Nadel gestrickt wurde, damit die Ministerin ihn noch vor den großen Ferien lesen konnte. Die Ferien sind vorbei. Jetzt müssen aus Worten Taten werden. 

Ines Kurschat
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