Die kleine Zeitzeugin

Tot, wie geht das?

d'Lëtzebuerger Land vom 03.11.2017

Und dann? Was kommt dann? Tunnel, Licht, total schön, die Allerliebsten, die einen empfangen. Und wenn die, schluck, ein Hühnchen mit mir zu rupfen haben? Die Hirnexperten beruhigen: Das Hirn gebe nur noch ein paar Reflexe von sich. Von wegen Licht, ewiges.

Aber vielleicht ist bei den Hirnexperten eine Hirnhälfte unterbelichtet. Und deshalb können wir uns von ihnen keinen Trip-Tipp erwarten, wohin die Reise geht, bis wohin, wann es losgeht. Keine Reiseberichte, kein Hinweis auf Reiseleiter, Reisebegleiter. Keinen Verhaltenscode, keine Musts, keine No-Gos.

Das Einzige, was wir todsicher wissen, ist, dass diese Reise uns das Leben kostet. Also dieses hier, jetzt, das, was wir in unserer gerade aktuellen Verkörperung darunter verstehen. Aber kriegen wir dann wenigstens ein anderes, ein ewiges? Oder sind wir nicht sowieso mittendrin, wechseln nur hin und wieder die Seiten, machen rüber, von Diesseits nach Jen-? Alles eine Frage der Perspektive?

Wie kommt Er – bei uns ist er ein Er –, denn überhaupt daher? Ist er plötzlich da, ein alter Bekannter? Hi! Der Sensenmann, der alte Stone, legt lässig den Arm um die alte Schachtel, let’s go! Wohin? Wirst schon sehn, Time is on my Side. Off.

Personal und Projektionen sind natürlich variabel, je nach Geschlecht, Kulturteufelskreis und Epoche. Let’s totentanz! In Mexiko übernimmt eine Lady den Escort Service. Escort to Ex.

Vordergründig kann es eher nüchtern ablaufen. Ein Datum wird genannt, wie bei einer Geburt. So viele Jahre, so viele Monate. Die Zellen vermehren sich in Atem beraubender Geschwindigkeit, man kann sie nicht mehr zählen, die Tage sind gezählt. Der Körper ist eine von einer feindlichen Truppe besiedelte Kolonie, dem Körperinhaber bleibt nur noch die Flucht. Aussteigen!

Wie man das aber hinkriegt, um hin zu werden, bleibt dann doch jeder selbst überlassen. Vielleicht die Schweiz, schick, ein Schierlingsbecher, angenehmes Ambiente, die unappetitliche Hinterlassenschaft wird zugleich diskret und stilvoll entsorgt. Luxemburg ist ebenfalls human, der von Siechtum erschöpfte Mensch kann seinen Kopf in Ruhe legen, den Geist aufgeben und sich hingeben. Er muss nicht leiden wie ein Vieh, was ja heutzutage meist sowieso nicht mehr leiden muss. Er wird erlöst, schon und noch auf Erden. Manche meinen, das gelte nicht, wäre geschummelt, den Tod müsse man sich hart erwerben, man könne das Sterben nicht schwänzen. Aber wer soll das entscheiden, wenn nicht die Todgeweihten?

Sich ölen lassen, zuletzt, so oft wurden die meisten zwar noch nicht geölt, ist auch eine Option, immer noch. Oder nachschlagen bei den Ägyptern. Bei den Keltinnen. Bei den Tibetern, in ihrem Totenbuch, der ultimativen Geisterbahn der Todestripper. Mit exakten Anleitungen und Stationen. Sehr anstrengend allerdings für die arme Seele, die sich sich mit ihren Dämon_innen abstruggelt. Während ihr ein Lama Horrorstorys vorliest.

Sich aufs Totenbett legen und im Kreis der Lieben das Leben aushauchen, bezieungsweise den letzten Schnaufer tun, die Lieben scharren mit den Füßen und starren und murmeln, wie friedlich man ausschaut, wie entspannt, erlöst. Aber auch wieder obszön, so da zu liegen, den Blicken, den Kommentaren ausgeliefert; manch ein Leichnam setzt dann auch eine Fratze auf, die alle erschreckt, sie erkennen den Toten nicht wieder, sagen sie später. Er war so fremd. Er ist ja auch schon ein Fremder, unterwegs in der Fremde. Die ihm gerade einen Riesenschrecken einjagt. Oder vielleicht macht er sich gerade einen Jux, der brave Vater will alle erschrecken, endlich einmal, mit seinem dämonischen Grinsen. Aber worüber mache ich mir Gedanken, wahrscheinlich kommt da sowieso keiner.

Nachts empfängt die Schriftstellerin Lotte Ingrisch in ihrer Wohnung in der Wiener Hofburg bei Schokolade und Rotwein Gespenster, die meisten sind ziemlich gesprächig. Die Reise- und Zustandsberichte aus der Parallelwelt verarbeitet sie in ihren Büchern. Ein bisschen ungeduldig wartet sie schon auf ihren Tod. Sterben, schwärmt sie, ist viel besser als ein Orgasmus. Sterben ist der wirkliche Orgasmus.

Wär’ wenigstens das mal geklärt.

Michèle Thoma
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