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Banal böse Bilder

d'Lëtzebuerger Land du 17.08.2018

Der Mensch ist frei geboren und wird doch überall gegängelt und drangsaliert. Um „Routine-Grausamkeiten des 21. Jahrhunderts zu porträtieren“, hat Theo Deutinger eine Serie grafischer Illustrationen zur „alltäglichen Implementierung von Vorschriften rund um die Erde“ zusammengestellt. Der österreichische Architekt, Autor und Designer verspricht „tiefschürfende Einblicke in die Beziehung zwischen politischer Macht, Territorialität und systematischen Grausamkeiten“.

Der Titel Handbuch der Tyrannei suggeriert, dass Despotie strukturiert behandelt oder zumindest ein Überblick zu Hauptaspekten gegeben wird. Tatsächlich enthält der Band aber lediglich Schaubilder und Landkarten zu zwölf recht willkürlich ausgewählten Themen. Korrekter würde er „Skizzen zu schaurigen Sachen“ heißen.

Vielleicht hätte Deutinger zunächst definieren sollen, was er unter Tyrannei versteht. Üble Konzerne, nach gängiger Auffassung heute die Oberdespoten und schlimmer als Regierungen, kommen jedenfalls in seinem Buch nicht vor. Nur nebenbei wird erwähnt, dass Facebook mit 30 000 Mitarbeitern die Daten von mehr als 2 Milliarden Menschen sammelt. Dabei wäre gerade wirtschaftliche Macht aufklärungsbedürftig. Könnte bitte mal jemand zeigen, wo Vertreter von GoldmanSachs überall Schlüsselpositionen besetzen?

Diktatoren beherrschen Körper und Köpfe. Ihre traditionellen Büttel sind Soldaten und Steuer-Eintreiber, Pfarrer und Lehrer. Zu Bildung und Religion ist in dem Handbuch aber ebenso wenig zu finden wie zu Geld. Müssen Eltern ihre Kinder staatlich indoktrinieren lassen? Gibt es Kleider- oder Nahrungsvorschriften? Pfuschen greise Kuttenträger im Abtreibungsrecht herum? So viele Fragen und keine Antworten. Selbst abstrakte Themen wie Zensur oder Manipulation ließen sich aber durchaus veranschaulichen (ein Beispiel ist die „Schweizer Propaganda-Studie“: www.swprs.org).

Zum Militär bietet Deutinger nur eine einzige Infografik, nämlich „Bunker Buster“. Dass Bomben sechzig Meter dicke Betonwände knacken können, ist bedrückend. Für die meisten Menschen wären aber andere Fragen drängender. Etwa Wehrpflicht. Was „Sicherheit“ kostet. Wo Sperrgebiete sind. Oder wie man Kampfdrohnen erkennt (hilfreich: www.dronesurvivalguide.org).

Am ausführlichsten, auf 20 von 164 Seiten, werden mit kleinen, etwas ermüdenden Weltkarten Visa-Vorschriften illustriert: Mit einem Luxemburger Pass kommt man ohne Visum in 156 Länder, mit einem deutschen in 159 – dagegen mit einem afghanischen Pass nur in 22. Gelobt werden Tuvalu, Samoa und zwölf andere, meist afrikanische Staaten, die zur Einreise bloß einen Ausweis verlangen.

Detailliert und beeindruckend ist das Kapitel „Mauern und Zäune“. Seit dem Fall der Berliner Mauer wurden weltweit über 50 neue Barrieren auf mehr als 18 000 Kilometern errichtet. West-Bank und Bangladesch sind fast vollständig abgeschottet, bei Israel, Türkei, Marokko und Saudi-Arabien fehlt nicht viel. Die Wellblechwand zwischen Ägypten und Gaza reicht 18 Meter in die Tiefe, um Tunnel zu verhindern.

Das Wegsperren einzelner Menschen behandelt nur eine Grafik: Die Größe von Gefängniszellen reicht von zwei Quadratmetern in Guinea bis zu zwölf in der Schweiz. Ansonsten ist zu Gesetzen oder Justiz leider nichts zu erfahren. Gibt es so etwas wie einen Rechtsstaat? Wird gefoltert? Kann man sich einen Anwalt nehmen? Dürfen auch Frauen Eigentum erwerben? Oder wenigstens Fahrrad fahren? Vor der Auswanderung ins visafreie Mauretanien sollte frau da noch einmal nachfragen.

Grausig ist die Schritt-für-Schritt-Darstellung von Hinrichtungen: Steinigen im Iran, Köpfen in Saudi-Arabien, Hängen in Kuwait, Erschießen in China, Vergiften in den USA. Dass Deutinger gleich anschließend im gleichen Stil das Thema „Schlachthaus“ und die Verarbeitung verschiedener Fleischsorten erläutert, dürfte der Metzgerei-Branche kaum gefallen.

Skurril ist das Kapitel „Terrorgruppen“, das seitenlang die Farbe von Fahnen auswertet: Bis 1989 bevorzugten mörderische Psychopathen Rot, später Grün, heute meist Schwarz. Hilft uns das weiter? Sachdienlicher sind wohl die Darstellungen zur „defensiven Stadt“ und zu „Crowd Control“. Allerdings bieten sie nichts Neues. Wer sich zu Absperrungen, Anti-Penner-Parkbänken, Wasserwerfern oder Überwachungskameras weiterbilden will, sollte wohl lieber einschlägige Fachmessen besuchen.

Dass Deutingers Kaleidoskop des Bösen etwas mager ausfällt, ist schade. An Gewalt und Unrecht wäre in der Welt kein Mangel. Wer wissen will, wie es der Menschheit ergeht, ist zum Beispiel mit Atlanten von Le Monde Diplomatique oder Berichten von Amnesty, Freedom House & Co besser bedient. Wer selbst den Drang zum Durchgreifen verspürt, lese dagegen „Weltherrschaft für Anfänger. Das Handbuch für angehende Diktatoren“ von André de Guillaume.

Das Handbook of tyranny von Theo Deutinger ist erschienen bei Lars Müller Publishers, Zürich 2018. Die Schaubilder werden auch auf der Internetseite seines Büros präsentiert: www.td-architects.eu

Wie eindrücklich Zeichenkünstler komplexe Themen, gerne auch Menschenrechtsfragen veranschaulichen können, zeigt der Band Visual Journalism. Infographics from the World’s Best Newsrooms and Designers, den Javier Errea 2017 im Berliner Gestalten-Verlag herausgegeben hat.

Martin Ebner
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