Berufsausbildung

Ausbildung für alle?

d'Lëtzebuerger Land du 21.12.2006

Die Mitarbeiter des Bildungsministeriums müssen sich wie in Steven Spielbergs Jurassic Parc vorkommen. Neben der Generalüberholung des Primärschulgesetzes von 1912 soll nun auch der papierne Dinosaurier über die Berufsausbildung, dessen Ursprünge auf 1929 beziehungsweise 1945 zurückgehen, zu Grabe getragen und durch eine moderne Fassung ersetzt werden. Schon lange drängen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände darauf, endlich die Berufsausbildung zu reformieren. Lehrinhalte seien veraltet oder regelrecht überholt, Schule und Arbeitswelt drifteten zunehmend auseinander, klagen sie.

Dass es die Schule immer weniger schafft, ihren gesellschaftlichen Auftrag zu erfüllen und Schülern das nötige Rüstzeug für ein erfolgreiches Berufsleben mit auf den Weg zu geben, ist eine traurige Tatsache: Die Jugendarbeitslosigkeit liegt mittlerweile in Luxemburg bei fast 20 Prozent. Und obwohl dank florierender Wirtschaft immer neue Arbeitsplätze entstehen, werden diese zunehmend seltener von luxemburgischen Bewerbern besetzt – weil sie nicht oder zu schlecht ausgebildet sind. Eine aktuelle Studie des Statec belegt den ausländischen Konkurrenzdruck. Im Bildungsvergleich mit belgischen, deutschen und französischen Pendlern schneiden Luxemburger dramatisch schlecht ab: Nur etwa jeder vierte besitzt einen Hochschulabschluss, bei den Belgiern und Franzosen ist es mehr als jeder zweite.

„Wir qualifizieren nicht genügend junge Menschen“, fasste Mady Delvaux-Stehres (LSAP) im Tageblatt-Interview im November ihre Analyse der Ausbildungsmisere zusammen. Neben der Modernisierung hat die Bildungsministerin daher als oberstes Ziel ihrer Ausbildungsreform vorgegeben, die Zahl der Schüler ohne Abschluss spürbar zu senken.

Drei prinzipielle Neuerungen sollen dabei helfen. Zum einen soll das Konzept des lebenslangen Lernens flächendeckend gelten. Dazu werden in der Berufsbildung – in der Erstausbildung ebenso wie in der Weiterbildung – so genannte kompetenzbasierte Module eingeführt. „Wir wollen jedem die Möglichkeit geben, entsprechend seinen Fähigkeiten eine Ausbildung zu machen“, erklärt Aly Schroeder aus dem Unterrichtsministerium, zuständig für die Berufsausbildung und Hauptautor des neuen Textes. Je nach Wissensstand und Bedarf, Baustein für Baustein, kann sich der Lernende so Wissen und Können aneignen; im Rahmen der Erstausbildung, als Weiterbildung oder, für Schulabbrecher und  Umschüler, als zweite Bildungschance. Schwache Schüler sollen über eine zweijährige Basisausbildung, die mit dem alten und neuen CITP (certificat d’initiation technique et professionnelle) abschließt, an die praktische Berufsausbildung herangeführt werden – und ihren Abschluss dann über weiterführende Kompetenzmodule aufwerten können. Im Mittelpunkt der beruflichen Erstausbildung soll aber die dreijährige Gesellenausbildung DAP (diplôme d’aptitude professionnelle; heute CATP) stehen. Wer will, kann auch dort weiterführende Module besuchen. Bei bestandenem Abschlussexamen steht sogar der Weg zum fachbezogenen Studium frei. Daneben soll der Techniker der beruflichen Ausbildung zugeschlagen werden.

Mit dieser Neuausrichtung hofft das Bildungsministerium insbesondere der paradoxen Situation auf dem Arbeitsmarkt beizukommen: Obwohl Industrie, Hotelgewerbe und Handwerk händeringend Nachwuchs suchen, wollen viele Jugendliche (und Eltern) von einem handwerklichen Beruf nichts wissen und versuchen lieber, doch noch irgendwie die begehrte Zulassung zum Hochschulstudium zu ergattern. Als letzter Rettungsanker galt ihnen bislang die Technikerausbildung – mit dem Effekt, dass etliche von ihnen, überfordert und von Notenfrust und Examensstress zermürbt, die Schule abbrechen. Geht es nach dem Ministerium, soll es den Technikerabschluss nunmehr ohne Examen – und ohne Studiumsberechtigung – geben. Ziel soll sein, mit stärker auf die Betriebswelt bezogenen Inhalten mehr Jugendlichen den Abschluss zum Techniker zu ermöglichen und so ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Wer als Techniker statt in den Betrieb zur Uni will, muss Extra-Module besuchen und ein nationales Examen bestehen.

Was Arbeitgebervertreter wie Paul Krier von der Handwerkskammer als „dringend notwendige Aufwertung der Berufsausbildung“ begrüßen, ruft an anderer Stelle jedoch erbitterten Protest hervor. „Der Techniker-Ausbildung könnte das Aus drohen“, titelte das Tageblatt unter Berufung auf den Direktor des Lycée technique des arts et métiers (LTAM), Norbert Jacobs. Der streitbare Direktor sieht in den Plänen zur Technikerausbildung vor allem zweierlei: einen Frontalangriff auf das Technikerdiplom und den Versuch der Arbeitgeber, billige Arbeitskräfte zu rekrutieren. Für Jacobs ist das Problem der Schulabbrecher hausgemacht. „Wenn es zu viele Schüler in der Technikerausbildung gibt, die ihr Diplom nicht schaffen, hat das damit zu tun, dass in den letzten Jahren niemand den Mut hatte, den Eltern zu sagen, dass nur die fähigsten Schüler Zugang zu dieser Ausbildung haben sollte“, sagte Nobert Jacobs dem Tageblatt Ende November.

Eine ähnliche Kritik kommt von den Gewerkschaften, die sich zu den Reformvorschlägen aber noch nicht öffentlich äußern wollen. Man werde den Text mit der Basis besprechen und sich dann eine Meinung bilden, so Jean-Claude Reding auf Nachfrage des Land. Allzu viel Veränderungsspielraum dürfte der OGBL-Präsident und Vorsitzende der Angestelltenkammer (CEPL) aber nicht mehr haben. Bei den Beratungen des Vorentwurfs mit dem Bildungsministerium saßen neben den Arbeitgebervertretern auch die der Arbeitnehmer mit am Tisch. Fundamentalkritik, das berichten Insider, sei von den Arbeitnehmervertretern dort nicht geäußert worden. In einem Gutachten zu einer geplanten Begleitvorschrift zur Reform der Berufsausbildung, das nationale Berufsfortbildungszentrum CNFPC betreffend, schreibt die Angestelltenkammer: „La Chambre des employés privés accueille de façon positive toute mesure ayant pour objectif de qualifier un maximum de jeunes.“ So gesehen, müsste sich die Ministerin in ihrem Bestreben, möglichst vielen Jugendlichen eine Ausbildung zukommen zu lassen, eigentlich von den Gewerkschaften unterstützt sehen.

Auch an anderer Stelle wurde für zentrale Leitlinien des Gesetzes grünes Licht gegeben: in Brüssel. In der hiesigen Bildungsdebatte ist es zwar kaum Thema, doch die Eckpunkte zur beruflichen Ausbildung, wie zu anderen Themen auch, wurden und werden zunehmend auf europäischer Ebene vorbestimmt. Die grenzüberschreitende Harmonisierung von Abschlüssen der beruflichen Ausbildung und Weiterbildung etwa, wie sie der luxemburgische Gesetzesvorschlag ermöglichen soll, ist Teil eines Maßnahmenpakets innerhalb des so genannten Kopenhagener Prozesses, über den die Bildungsminister seit mehr als vier Jahren beraten – und deren Stoßrichtung die europäischen Sozialpartner, darunter der Europäische Gewerkschaftsbund, grundsätzlich gutgeheißen haben.

Zwei Wochen ist es erst her, dass Mady Delvaux-Stehres gemeinsam mit ihren 24 EU-Amtskollegen das Helsinki-Kommuniqué über die verstärkte europäische Zusammenarbeit in der Berufsausbildung verabschiedet hat. Es bekräftigt wesentliche Prioritäten und Bestandteile des Kopenhagen-Prozesses vom Herbst 2002: die stärkere Ausrichtung des Ausbildungswesens an der Nachfrage beispielsweise oder den gemeinsamen friwilligen Versuch, einen europäischen Qualifikations- und Qualitätsrahmen zu erstellen und insbesondere die Ausbildung der Schulabbrecher und die Niedrigqualifizierten zu fördern.

Derselbe Kopenhagener Prozess, der sich für Förderung der Schwachen einsetzt, legt jedoch noch ein weiteres vorrangiges Ziel fest: Im Rahmen der Lissabon-Strategie sollen vor allem die Hochqualifizierten Europas Wettbewerbsfähigkeit in der Welt stärken. Das heißt: mehr Hochschulabschlüsse, mehr Meisterbriefe, mehr Weiterbildung. Genau dort wirft die laut Schätzungen der Angestelltenkammer über elf Millionen Euro teure Reform von Ministerin Delvaux-Stehres aber Fragen auf. Dass mit mehr CITP- und CATP-Abschlüssen Luxemburgs Konkurrenzfähigkeit in der Großregion (und darüber hinaus) wachsen wird, ist unwahrscheinlich. Die Daten des Statec lassen eher das Gegenteil vermuten: Auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren schon jetzt Luxemburger CATP-isten mit belgischen, französischen und deutschen Abiturienten und Hochschulabsolventen. Das Modulsystem würde zwar erlauben, die eigene Qualifikation im Laufe des Lebens immer weiter zu verbessern; ob das gegen die steigende Jugendarbeitslosigkeit senken hilft, ist aber ungewiss. Stimmen die Pisa-Ergebnisse, dann bilden Luxemburgs Schulen insgesamt zu viele Schüler zu schlecht aus, und zwar in allen Ausbildungszweigen. Das aber legt den Schluss nahe, dass nicht die Berufsausbildung allein, sondern das gesamte Bildungssystem verbessert werden muss.

Die Ursachen, warum so viele Schüler in Luxemburg die Anforderungen der höheren Klassen der Sekundarstufe nicht erreichen oder gar nicht erst dorthin orientiert werden, sind, allen Studien zum Trotz, noch immer nicht geklärt. Das Versagen der Schüler respektive des Bildungssystems beginnt, das legen Prüfungsergebnisse am Ende der sechsten Klasse nahe, wahrscheinlich früher. Welche Rolle spielen Vor- und Primärschulunterricht, wie viel trägt eine ungenügende Lehrerausbildung zum Bildungsnotstand bei, weil Lehrer nicht wissen, wie sie mit der zunehmenden Heterogenität der Kinder erfolgreich umgehen können? Hier werden wohl frühestens die für Ende 2007 erwarteten Resultate der internationalen Lesestudie Pirls (Progress in international reading literacy study) in den fünften Klassen Aufklärung bringen.

Sollten Qualitätsmängel in der Primärschule aber am Anfang einer Schulabbrecherkarriere stehen, stellt sich umso mehr die Frage, welche Maßnahmen in der Sekundarstufe ergriffen werden müssen – und was diese bewirken sollen und können. Bildungsforscher Romain Martin von der Universität Luxemburg fordert, im Primärschulgesetz strukturelle Mechanismen einzubauen, die eine „kontinuierliche, koordinierte und pädagogisch wertvolle Schulentwicklung auf hohem Niveau“ garantieren können. Nach dem Motto: so früh so wie möglich, so gut wie nötig. Wohl aus Rücksicht auf die Lehrergewerkschaften und die Verhandlungen zur Lehrer-Arbeitszeit hat Mady Delvaux-Stehres bisher darauf verzichtet, in den Primärschulen professionelle und pädagogisch versierte Schulleitungen einzuführen.

Will die Bildungsministerin den immer häufiger geäußerten Vorwurf ihrer Kritiker entkräften (siehe Randnotiz), ihre Bildungsreformen seien nicht kohärent, wird sie vor allem auch in diesem Punkt überzeugende Antworten liefern müssen. Sonst bleibt das erklärte Ziel, die jeweils besten Ausbildungschancen für alle zu ermöglichen, nur ein leeres Versprechen.

Ines Kurschat
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