Zur Tendenz geisteswissenschaftlich-musischer Kahlrasur im Rahmen der geplanten Réforme des classes supérieures de l’ES et de l’EST

Allgemeinbildung im Schraubstock des Utilitarismus

d'Lëtzebuerger Land du 09.06.2011

Der Linguist Noam Chomsky hat eine Professur am MIT, dem Massachusetts Institute of Technology in Cambridge. Chomsky wird so manchem aufgrund seiner kritischen Bewertung der US-Außenpolitik ein Begriff sein. Er hat jedoch für die Linguistik vor allem eins geleistet: die Gründung der generativen Syntax, auch bekannt unter dem Begriff Generative Transformationsgrammatik. Um insbesondere das effizient schnelle Lernen von Sprachen im Kindesalter nachzuvollziehen, entwickelte er eine Theorie, die nahezu mathematischer Natur ist: Sein Sprachmodell sieht vor, eine endlose Menge an Sätzen zu generieren, indem der Mensch sich einer endlichen Menge an Morphemen und Regeln (Erzeugungsgrammatik) bedient.

Noam Chomskys über die Jahre relativiertes und erweitertes Modell könnte von einem PC ohne weiteres übernommen werden. Die Symbolkraft, das Spiel mit der Sprache, die Schönheit einer Metapher, landesspezifische Konnotationen, kulturelle Hintergründe lässt dieses Modell jedoch völlig außer Acht. Das hat Chomsky auch so gewollt. Denn es war ihm kein Anliegen, die US-amerikanische High-School zu reformieren.

Die Réforme des classes supérieures von Ministerin Delvaux-Stehres zielt in Luxemburg darauf ab. In schleichenden Schritten wird sie Sprache nahezu auf das reduzieren, was Sprache eben nicht nur ist: Ein Sammelsurium an Syntax, Wortschatz, Sprachanalyse. Alles andere gerät in den abgedunkelten Hintergrund eines Nebensatzes und eines freiwillig wählbaren Wermutskurses. Im bildungspolitischen Wortlaut des vorgestellten Projekts bedeutet dies: „Les cours de langue visent essen­tiellement à développer les compétences langagières, sans enlever à cet enseignement de la langue le caractère de transmission de connaissances littéraires et culturelles. Les cours de lettres proposés dans le volet spécialisation sont consacrés de façon approfondie à l’étude des littératures.“ (S. 10)

Wird der Kultur- und Literatursprache oben noch mitleidig ein Existenzrecht eingeräumt, verheißt die Formulierung des sprachunterrichtlichen Grundprinzips noch Schlimmeres: „Pour améliorer la qualité des connaissances langagières et des capacités communicatives des jeunes, il est essentiel que l’apprentissage des structures syntaxiques nuancées et variées se poursuive jusque dans les classes supérieures. C’est précisément la finalité principale des cours de langue.“ (S. 10)

Um Missverständnissen entgegenzuwirken, sei unterstrichen, dass jede Wissenschaft (ob die der Sprache, des Geistes, der Natur, Musik, Kunst undsoweiter) in der Schule eine Rechtfertigung finden kann. Dieser Beitrag soll keinesfalls die Wichtigkeit der Mathematik oder anderer im Rahmen der Reform höher bewerteter Disziplinen in Frage stellen. Ganz im Gegenteil, alle unsere Fächer sind Stützpfeiler dessen, was in archaischen Vorzeiten noch als humanistische Bildung galt: Eine Symphonie an Wissen und Fertigkeiten (neuluxemburgisch: Kompetenz!). Damit ist eine Allgemeinbildung gemeint, die universale Werte vermittelt, Gesetze der Natur und Kunst, Musik und Mathematik unterrichtet und einen Beitrag dazu leistet, Menschen in Persönlichkeiten zu verwandeln.

Die gegenwärtigen Reformpläne sind auch keineswegs generell zu verdammen. In ihnen steckt viel Wahres, viel Sinnvolles. Und doch bricht durch sie eine allgemeine Tendenz utilitaristischer Denkart durch: Welche Instrumente muss eine Schule anbieten, damit die Schlote kommender Generationen rauchen? Transformationsgrammatisch gefragt: Welche Morpheme bietet sie an, damit die gesellschaftliche Syntax nicht zusammenbricht? Mit dieser Ideologie gehen nicht nur die Schönheit der Sprache und eine ganze literarische und kulturelle Tradition zu Grunde, auch andere Fächer wie Geografie, Geschichte, Musik und Kunst finden in dem Gesetzesvorhaben zu wenig Berücksichtigung. Warum auch, wenn von ihnen keine Dividende abhängt? Damit die Lehrer nicht arbeitslos werden, vermischt man ihre „nebensächlichen“ Fächer verquer zu Fusion-Food. Mehr braucht es nicht, um im modernen Restaurant ein leicht verdauliches Menu zu bestellen.

Es bleibt zu hoffen, dass dieser drohenden literarischen und musischen, dieser humanistischen Kahlrasur eine größere Anzahl an selbst- und verantwortungsbewussten Lehrkräften gegensteuern wird, damit unsere Schulen auch – aber eben nicht nur! – eine Drehtür zum nächsten börsennotierten Unternehmen werden. Das wird unsere Verantwortung sein.

Da Lehrern so manches Mal unterstellt wird, nur aus ihrem Weltbild heraus zu argumentieren, wollen wir dieses Klischee eifrig und entschlossen bedienen und sogar mit jenem Text argumentieren, der, wie wenig andere Werke der Literaturgeschichte, mit der luxemburgischen Tradi­tion rund um den Deutschunterricht verbunden wird: In Max Frischs Homo Faber wird ein Ingenieur dargestellt, der aus einem vermeintlich strukturierten, ausschließlich logisch-naturwissenschaftlichen Blickwinkel heraus vor allem daran zu Grunde geht, dass er seine Geschichte, den künstlerischen Bedarf und die musische Schönheit des Lebens kategorisch verwirft. Walter Faber wäre keine Personifizierung der Reformvorhaben auf Aldringen, als Satire würde er jedoch herhalten. Über seine Weltsicht haben so manche Schüler meiner streckenweise sehr emotional beteiligten Abi-Jahrgänge den Kopf geschüttelt: „Was für ein Idiot!“.

Ihr, die Ihr in zehn Jahren Euren Abschluss schafft, seid beruhigt: Dass Ihr mit Begriffen wie Satire oder Symphonie, Personifizierung oder musisch wenig werdet anfangen können, ist völlig normal. Durch den niederösterreichischen Sebas­tianbach fließt Wasser, Romantik kennt ihr vom Wochenende und die Pyramiden stehen im Disneyland, gleich hinten rechts, neben dem Taj Mahal. Schillernde Aussichten!

Aufgrund seiner gegenwärtigen Tätigkeit im LGL (ausschließlich ES) möchte sich der Autor nur auf die Auswirkungen der Reformpläne auf das ES beschränken.
Claude Reiles
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