Chancengleichheit von Jungen und Mädchen

Ganz der Vater

d'Lëtzebuerger Land du 05.01.2006

Töchter und Söhne von ungelernten Arbeitern landen wesentlich häufiger (über 90 Prozent) im technischen Sekundarunterricht oder im Régime préparatoire als ihre Altersgenossen mit Eltern, die eine mittlere Ausbildung haben (rund 42 Prozent). Die Kinder von Beschäftigten des gehobenen Dienstes finden sich gar zu zwei Drittel im klassischen Lyzeum wieder. Während fast 85 Prozent von ihnen die Schule abschließen ohne sitzen zu bleiben, fällt jedes dritte Facharbeiterkind durch und muss eine Klasse wiederholen. Das hat eine aktuelle Untersuchung des "Service de coordination de la recherche et de l’innovation pédagogiques et technologiques" (Script) des Unterrichtsministerium ergeben, bei der die Schullaufbahnen von über 4 800 Schülern eines Jahrgangs ausgewertet wurden. Wer nun abwinkt, das sei doch alles längst bekannt, der sollte genauer hinschauen. Die Studie hat nämlich die Schullaufbahnen luxemburgischer Kinder mit jenen portugiesischer Kinder gleicher sozialer Herkunft verglichen: Knapp zwei Drittel (65 Prozent) der untersuchten luxemburgischen Facharbeiterkinder befinden sich im unteren Zyklus des technischen Sekundarunterricht, bei den portugiesischen Schülern sind es fast genauso viele, rund 62 Prozent. Bei den Sprösslingen ungelernter Arbeiter befindet sich jeder zweite luxemburgische (59 Prozent) und jeder zweite portugiesische Schüler (50 Prozent) im technischen Unterricht. Dass von insgesamt zehn "sozioökonomischen Kategorien", welche die Studie vorsieht, nur diese beiden miteinander verglichen werden, liegt daran, dass in den anderen, höheren kaum Portugiesen vertreten sind – nicht zuletzt Ergebnis wohl auch eines Beamtentums, das sich vor jeglicher nicht-luxemburgischer Konkurrenz abschottet. Ganz neu ist die Erkenntnis, dass die soziale Herkunft für den schulischen Erfolg oder Misserfolg schwerer wiegt als die Nationalität, aber auch nicht, Pisa I und II hatten schon Ähnliches gezeigt. Die nationale Herkunft ist deshalb aber nicht bedeutungslos. Die Schere zwischen den beiden Schülergruppen geht im Régime préparatoire wieder auf. Portugiesische Kinder sind dort wesentlich häufiger anzutreffen als luxemburgische. Die Ursachen für das ungleiche Abschneiden hat die 15-seitige Studie nicht erforscht. Internationale Bildungsforscher haben jedoch herausgefunden, dass hierfür meist ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Faktoren verantwortlich ist. So erhalten Töchter und Söhne in so genannten "bildungsfernen" Schichten tendenziell weniger Unterstützung beim Lernen - weil die Eltern es nicht können oder sich weniger für die schulischen Leistungen ihrer Kinder interessieren. Aber auch die Mehrgliedrigkeit des Schulsystems sowie Wahrnehmung und Bewertung des Schülers durch das Lehrpersonal (und des Schülers) spielen eine entscheidende Rolle. So bestätigen Lehrer – und Schüler - oftmals soziale Rollenzuweisungen: Indem sie Kindern bildungsferner Eltern von vornherein - bewusst oder unbewusst - weniger zutrauen, sie weniger fördern und schlechter bewerten.     In Luxemburg wurden diese komplexen Überlegungen bisher kaum thematisiert. Das mehrgliedrige Schulsystem mitsamt der frühen Orientierung in Frage zu stellen und seine sozialen Folgen zu benennen, ist bei fast allen Politikern verpönt - wenig erstaunlich, schließlich sind es doch gerade die Kinder des Bildungsbürgertums, die von dem jetzigen System profitieren. Die gegenwärtige Politik der Unterrichtsministerin bedeutet vor diesem Hintergrund immerhin einen kleinen Fortschritt, weil sie das schulische Lernen aus dem elterlichen Verantwortungsbereich herausholt und dort verortet, wo es hingehört: in die Schule. Um echte Chancengleichheit zu gewähren und die soziale Selektion zu verringern, reicht das aber sicherlich nicht aus.

Ines Kurschat
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