Künstlergespräch: Paul Ripke, Fotograf

„Volle Möhre“

d'Lëtzebuerger Land du 15.08.2014

„Ich hab’ wenig Talent“, so die Selbsteinschätzung des Hamburger Fotografen Paul Ripke, einem der derzeit populärsten kommerziellen Fotografen Deutschlands. Seine Auftragsarbeiten umfassen vor allem Werbe- und Sportfotografie, während seine persönlichen Bilder sich derzeit auf Reisereportagen konzentrieren.

Mit dem deutschen Hip-Hop-Sänger Marteria verbindet Ripke eine tiefe Freundschaft. So begleitet er ihn zu fast allen Auftritten, die er fotografiert und für deren visuelle Gestaltung er zuständig ist. Anlässlich von Marterias Konzert beim Rock-A-Field-Festival Ende Juni war Paul Ripke in Luxemburg.

Die Begrüßung erfolgt zunächst über Handzeichen, da Ripke gerade ein geschäftliches Handygespräch führt, eines von vielen an diesem Tag. Während der Fahrt zum Festival – mit Zwischenhalt in der Edward-Steichen-Sammlung in Düdelingen –folgen weitere Telefonate. Schnell zeigt sich Ripkes Verhandlungsstärke, eine Art unaufgeregtes Durchsetzungsvermögen, das er selbst auf seine Zeit als Hockeytrainer zurückführt. Im freitäglichen Luxemburger Feierabendverkehr bleibt gleichwohl genug Zeit, mit Ripke, der keine fotografische Ausbildung hat, über seinen Werdegang zu reden. Sein früh verstorbener Vater, ein Heidelberger Allgemeinmediziner, habe ihm bereits mit zehn Jahren einen Zugang zur Fotografie ermöglicht, der auf Vater-Sohn-Reisen, wie Foto-Urlauben in Prag, vertieft wurde. Auf diesen Reisen zeigte sich auch die Umtriebigkeit des Sohnes, der sich im Rückblick als „typisches ADHS-Kind“ bezeichnet, das etwa beim Parasailing auf Kuba noch am Fallschirm hängend auf die nächste Attraktion drängt.

In seiner Karriere als Fotograf habe es keinen eindeutigen Durchbruch gegeben, vielmehr, so Ripke, habe angetrieben vom Willen, auf eigenen Füßen stehen zu wollen, ein fließender Übergang vom BWL-Studium mit Kindergeld und Halbwaisenrente hin zur finanziellen Unabhängigkeit im Alter von 24 Jahren stattgefunden. Auf sein angeblich mangelndes Talent verweisend, erklärt er, wie er bei seinen ersten Aufträgen, die vor allem aus der Hip-Hop-Szene kamen, davon profitiert habe, dass die Musiker ihrerseits lieber „auf Hip-Hopper als auf gute Fotografen“ setzten. „Ich mag Entscheidungen“, sagt Ripke über sich. Diese seien für sein Weiterkommen bedeutender als sein Können gewesen. Als Beispiel nennt er den Entschluss, mit 20 eine GmbH zu gründen, weil er diesen Schritt „per se geil“ fand.

Entsprechend seiner Selbststilisierung als Machertyp lehnt Ripke den Status des Fotokünstlers ab. Ihn mit einem Künstler zu vergleichen, sei wie „RTL mit öffentlich-rechtlichen Sendern“ zu vergleichen. Seine Arbeit sei zu schnelllebig, die Projekte zu vielzählig. Sein Eindruck sei, dass Kunst oft durch ausgiebige Zuschreibung von Inhalten zustande komme, indem sich ein Projekt erst durch langwierige Diskussionen über seine Bedeutung allmählich selber rechtfertige und schließlich als Kunst etabliere. Er habe nicht die Geduld, sich über einen längeren Zeitraum derart ausgiebig mit einzelnen Arbeiten zu befassen, sagt Ripke. Man könne heutzutage „fünftausend Sachen“ aus einem einzigen Bild machen. Er jedoch bevorzuge, sich für eine Art der Bearbeitung zu entscheiden und Projekte schnell und effizient abzuschließen. „Mehr“ sei für ihn „wichtiger als gut“, und so verfolge er lieber „zehn Sachen auf 90 Prozent als eine Sache auf 100 Prozent“. Bedeutender als künstlerische Perfektion seien in seinem Metier „Persönlichkeit, Herangehensweise und Kontakte“. Ripke, der 2012 eine Tour der Toten Hosen fotografisch und filmisch begleitet hat, erklärt, wie sich seine Herangehensweise zum Beispiel von der seines Kollegen Andreas Gursky unterscheidet. Während er selber spontan und ohne viel Inszenierung vorwiegend mit einer kleinen Leica-Kamera dokumentiert, betreibt Gursky, der für die Band ein Album-Cover sowie ein Foto des Konzertpublikums erstellte, einen wesentlich höheren Aufwand, indem bereits die Aufnahme der Fotografie zu einem langwierigen und durchweg kontrollierten Prozess wird.

Bei der Ankunft in Düdelingen ist Ripke, dem Steichen bis dato kein Begriff war, interessiert an den dokumentarischen Arbeiten der FSA-Fotografen. Verglichen mit den lachenden Kindern, die er im Zuge seiner Weltreise mit Marteria in Nepal fotografiert hat, würden die Porträts der Farmer aus den Dreißigern „dramatisiert“ wirken, so seine Einschätzung. Ripke zeigt sich sehr vom Ausstellungsort Wasserturm fasziniert und merkt an, dass es ihm erstaunlich schwer falle, eine Ausstellungsmöglichkeit für seine Porträtreihe der deutschen Fußballnationalmannschaft zu finden, die er vor der WM erstellt hat und die inzwischen in einer Kölner Bar zu sehen ist.

Sein Verhältnis zur Nationalmannschaft, die er seit dem Trainingslager fotografisch begleitet, beschreibt Ripke, der sich dem Fußball ähnlich wie dem Hip-Hop verbunden fühlt, als sehr vertraut. Auf dem Rock-A-Field-Festival angekommen, zeigt sich backstage mit Marteria und dessen Band, die sich über die unterwegs gekauften Macarons freuen, sehr schnell, was es mit diesem Vertrauensverhältnis auf sich hat. Ripke erscheint, nicht zuletzt durch seine Freundschaft mit Marten Laciny, aka Marteria, als fester Bestandteil der ohnehin sehr familiär wirkenden Gruppe. Genau wie die Mannschaft wüssten alle, dass trotz der Nähe des Fotografen und seinem Festhalten vergleichsweise intimer Momente nichts Verunglimpfendes nach außen getragen würde, so Ripke. Eine große Rolle spiele dabei auch die Leica, die unscheinbar wirke und ihn nicht als journalistischen Eindringling erscheinen lasse.

Im Backstage-Bereich kennzeichnet eine ausgeprägte Langeweile die Zeit bis zum mitternächtlichen Auftritt. Neben dem Austausch aktuellen Hip-Hop-Gossips bleibt so mehr als genug Zeit, um genauer über Themen wie die proklamierte Talentfreiheit Ripkes zu sprechen. „Ich kokettiere natürlich ein bisschen damit, aber das Talent ist nicht fotografischer Natur“. So sei er beispielsweise „kein typischer Kunst-Leistungskurs-Fotograf“, denn er könne im Gegensatz zu diesen „gar nicht zeichnen“ und sei auch im Layouten „gar nicht gut.“ Diesen Teilbereich seiner Arbeit könne er „nicht kreieren, sondern nur kontrollieren.“ Er bleibt dabei: „Ich bin nicht da, wo ich bin, weil ich Talent habe.“ Stattdessen hätten Glück, Fleiß und persönliche Kontakte geholfen: „Wenn man mit einem Helikopter über Monaco durch den Abendhimmel fliegt, ist es nicht schwierig, gute Bilder zu machen, sondern in diesen Helikopter reinzukommen, und dabei kommt es nicht auf fotografische Qualität an.“

Angesprochen auf die Selbsteinschätzung seines Freundes befindet Laciny, dass Ripkes Arbeiten sehr wohl künstlerischer Natur seien. Er sehe das „ganz anders“; ob es nun etwas mit Fotos oder Musik zu tun habe, das Prinzip sei doch: „Du hast einen Gedanken, eine Fantasie, malst dir etwas in deinem Kopf aus und realisierst das. Das ist für mich Kunst.“ Dies gelte freilich nicht für Auftragsarbeiten, bei denen die Idee von außen kommt.

Die Unterscheidung zwischen kommerziellen und persönlichen Arbeiten ist für Ripkes Selbstverständnis als Fotograf von großer Bedeutung. „Offenblendige Reisereportage ist derzeit das, was mich am meisten interessiert und worin ich am meisten investiere.“ Die Auftragsarbeiten sieht Ripke pragmatisch, mit ihnen identifiziere er sich „überhaupt nicht“. Er betrachtet sie als Job, der ihm freie Arbeiten und persönliche Projekte ermögliche. Er verdiene lieber Montag sein Geld mit einem Großkunden, wenn er dafür „am Dienstag für Viva con Agua Brunnen in Uganda bauen“ könne, so Ripke, der 2013 mit der Hamburger Charity-Organisation vor Ort war. Die Zweiteilung seiner Projekte kam bereits zu Beginn seiner kommerziellen Arbeit auf. Ripke, der inzwischen von Assistenten und Praktikanten in seinem Studio unterstützt wird, fotografierte seine Aufträge, wie beispielsweise Katalogfotos für Discounter, die auch heute noch einen wichtigen Teil der Arbeit ausmachen, anfangs komplett selber. Dies habe dem Drang nach einem kreativen Ausgleich zur Folge gehabt: „Wenn ich den Tag über acht Stunden Cordhosen fotografiert habe, dann musste ich am Abend etwas mit Herzblut machen.“ So habe ihm diese Routine am Ende sowohl technische Übung als auch eigene Arbeiten ermöglicht. Während er bei diesen keine Kompromisse zulasse, stünden bei den kommerziellen Arbeiten klar die Wünsche des Kunden im Vordergrund: „Ich wasch’ dem auch sein Auto, wenn es sein muss“, flachst Ripke, um den Dienstleistungscharakter dieser Arbeit hervorzuheben. Die Identifikation mit den persönlichen Arbeiten begründet sich auch mit dem angestrebten Endergebnis: „Ich arbeite dafür, dass am Ende ausgedruckte Bilder an der Wand sind“, was bei den kommerziellen Arbeiten selten der Fall sei.

Das von Paul Ripke anfangs dargestellte Selbstbild der Kunstlosigkeit bekommt so erste Risse. Eine Ablehnung der Exklusivität, wie andere Fotografen sie für ihre Arbeiten beanspruchen, sagt schließlich nichts über künstlerische Qualität aus. Und tatsächlich ist auch Ripkes Projekt Zwei Minuten Zufall1 in Buchform auf 1 000 Exemplare limitiert. Das Projekt entstand über einen – für Ripke sehr langen – Zeitraum von vier Jahren. Ermöglicht wurde die Serie durch Reinhold Beckmann, der Ripke erlaubte, die Gäste seiner Talkshow unmittelbar vor Drehbeginn zu fotografieren. Davon ausgehend entstand ein umfassendes Projekt, im Zuge dessen Ripke auch außerhalb der Sendung eine Vielzahl von Bekannten fotografierte. Ergebnis ist eine Sammlung von 150 Porträts zumeist prominenter Personen, die alle nach demselben Prinzip fotografiert wurden: vor schwarzem Hintergrund und innerhalb von nur zwei Minuten.

Das binnen drei Monaten ausverkaufte Buch vertrieb Ripke, der „kein Verlagsmensch“ sei, wegen des „ekligen kommerziellen Anstrichs“, den dieses Projekt dadurch erfahren würde, über seinen Webshop. Es hat ein großes Format und macht mit seinem hochwertigen Einband sowie dem schwarzen Farbschnitt dann doch einen sehr exklusiven Eindruck. Dabei ist der Preis mit 80 Euro gemessen an Qualität und Quantität alles andere als exklusiv. Es mache ihn glücklich, dass die Käufer „nicht das Gefühl haben, zu viel dafür bezahlt zu haben“, sondern sich darüber freuen, für 80 Euro gute Qualität erhalten zu haben.

Sein Ziel bei der Serie sei gewesen, innerhalb der zwei Minuten die Persönlichkeit der jeweiligen Menschen zum Vorschein zu bringen. Er habe „volle Möhre“ fotografiert, sodass die Porträtierten keine Chance gehabt hätten, gekünstelte Posen einzunehmen. Reiz seiner Serie für den Betrachter sei wohl, dass die Leute „alle vergleichbar werden, da die externen Faktoren alle gleichgesetzt werden. Die Klamotte ist sehr ähnlich, das Licht ist gleich, der Hintergrund ist gleich, es ist wenig retuschiert. Man sieht quasi nur noch die Persönlichkeit“. Dass viele der Fotografierten diese Bilder selber nutzen, zeige ihm, dass dieser Anspruch erfüllt sei und „sie sich selbst auch wieder sehen“. Macht es einen Unterschied, internationale Prominente oder nepalesische Kinder zu fotografieren? „Es ist Kommunikation, immer das Gleiche. Es ist tatsächlich kein großer Unterschied, ob es ein sechsjähriges Kind aus Nepal ist oder Thilo Sarrazin. Meine Sprache sprechen sie beide nicht.“

Ripke, der von sich selber behauptet „nicht so der konzeptionelle Mensch“ zu sein, liefert mit seinem Projekt Zwei Minuten Zufall auf jeden Fall eine durchdachte und höchst interessante Serie, die sowohl in Inhalt als auch Reproduk-tion einem künstlerischen Anspruch gerecht wird.

Zwischen dem Gespräch und dem Auftritt Marterias dokumentiert Ripke das Geschehen backstage, das tags darauf auf seinem Blog zu sehen ist: Marterias Massage und die Bandage seines verstauchten Fußes, die Band beim Herumalbern mit ihren Drinks, die Band auf der Toilette, Gruppenfotos mit anderen Künstlern. Ehrfürchtigen jungen Fans, die sich zum Selfie mit dem Sänger positionieren, bietet Ripke, der den treuen Marteria-Anhängern von Videos und Blogeinträgen durchaus bekannt ist, seine fotografischen Dienste an: „Darf ich? Ich bin Fotograf.“

Beim anschließenden Konzert wird noch einmal die Herangehensweise Ripkes deutlich, der sich auch hier wie ein fester Teil der Band frei auf der Bühne bewegt, gleichwohl darauf bedacht, aus dem Blickfeld des Publikums zu bleiben. Er bewegt sich zwischen Bühne, Konzertgraben und Mischpult und lässt nach vier Liedern die Vielzahl anderer Fotografen aus dem Graben entfernen. Mit Marten Laciny zeigt sich eine eingespielte Routine; kurze Blicke reichen und der Sänger posiert für Ripkes Leica. Im Gegenzug unterstützt Ripke ihn beim abschließenden Stage-Diving, wählt geeignete Stellen aus und hilft dem Sänger anschließend beim Herausklettern. Gegen drei Uhr nachts ist der Tag für Ripke zu Ende, am nächsten Morgen folgt der Weiterflug nach Österreich für das Shooting einer Fußballmannschaft.

Einen knappen Monat später ist dieses Zusammenspiel für Millionen Fernsehzuschauer live vom Abpfiff des WM-Finales an zu sehen, als Ripke inmitten der Mannschaft das Geschehen mit seiner Leica dokumentiert. Man darf gespannt sein, auf welche Weise dieses Bildmaterial schließlich veröffentlicht wird.

1 Das Buch ist eine Auswahl der 125 besten Porträts mit Begleittexten. Die komplette Serie, die 400 Bilder umfasst, ist zu sehen unter: www.2minuten.paulripke.de
Boris Loder
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