Rentrée scolaire

Die Lehrermauer

d'Lëtzebuerger Land du 07.09.2006

Politiker erinnern zuweilen an Verkäufer. Ein Großteil ihrer Arbeit besteht darin, ihre "Waren" skeptischen Kunden feilzubieten. Ob es neue Gesetze sind, Reformen oder auch nur Reförmchen - um die Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen, werden kostenlose Werbeveranstaltungen gerne wahrgenommen. Am liebsten mit viel Blitz- und Kameralicht. Der Schulanfang ist so ein Event. Am kommenden Donnerstag findet die diesjährige Pressekonferenz zur Rentrée statt. Anders als im vergangenen Jahr sind die "Angebote", die Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres den Journalisten präsentieren wird, aber schon länger bekannt.

Die wichtigsten Baustellen hat die LSAP-Politikerin vor ein, zwei Jahren begonnen. Neben dem Start von Pilot-Ganztagsschulen, um pädagogische Alternativen zur herkömmlichen Schule zu bieten und neuere Lehrmethoden im Modellversuch zu testen, und der Reform des Primärschulgesetzes von 1912 gehört die Neuorientierung des Sprachenunterrichts zu den wohl größten Herausforderungen. Der Aktionsplan, der aus den Schlussfolgerungen des Sprachenberichts des Europarats und anschließenden Beratungen konkrete Maßnahmen ableitet, soll im Oktober vorgestellt werden. Bleiben noch die Bildungsstandards und der Gesetzesentwurf zur Berufsausbildung, die ihrer Ausarbeitung harren. Die Einführung von Mindest-Lernanforderungen wird ebenfalls Schwerpunkt der diesjährigen Rentrée sein. Mady Delvaux-Stehres wird vermutlich erklären, was es damit auf sich hat, und verkünden, dass die Ausarbeitung voranschreite. Sie wird höchstwahrscheinlich von Arbeitsgruppen im Ministerium berichten, an der sich auch Lehrer beteiligen, und sie wird die gute Zusammenarbeit und konstruktive Atmosphäre loben.

Schon einen Tag später, am Freitag, den 15. September, trifft sich die Ministerin mit den Lehrergewerkschaften. Und spätestens dann dürften gute Laune und Werbetour ihr Ende finden. Seit dem letzten Treffen im Juni hat sich die Stimmung zwischen Intersyndicale und Ministerium nämlich wieder verschlechtert. Dabei hatte es zunächst so ausgesehen, als würden die Verhandlungspartner nach anfänglich scharfen Tönen doch noch einen Dreh finden. So erklärten sich im Verlauf der Gespräche die drei Lehrergewerkschaften Apess, Feduse und SEW bereit, über die "qualitativen" Änderungsvorschläge der Ministerin zu diskutieren. Die Aufnahme der Remédiation in die Lehrer-Tâche würde man, wohl oder übel, ebenso schlucken wie die verpflichtende Weiterbildung, hieß es von Gewerkschaftsseite. Eine Abschaffung oder Änderung sowohl des Anciennitätsprinzips als auch der Koeffizientenregelung komme aber nicht in Frage.

Der Ministerin reichte das nicht. Beim letzten Treffen im Juni präsentierte sie ihren Gegenvorschlag: Bleiben weitere Zugeständnisse bei der Arbeitszeitgestaltung aus, dann müssten eben künftige Lehrergenerationen dran glauben. Sprach's und verschwand in die Ferien. Die mühsam aufpolierte Stimmung war wieder im Keller. "Eine Zwei-Klassen-Teilung in der Lehrerschaft mit gleichem Diplom lehnen wir ab", empört sich SEW-Vizepräsident Guy Foetz. Wie die beiden anderen Lehrervertretungen lehnt das Syndicat "quantitative" Maßnahmen, die auf eine Verlängerung der bisherigen Arbeitszeit hinauslaufen würden, nach wie vor entschieden ab. Sein einleuchtendes wie zutreffendes Argument: Die Personalnot des Luxemburger Bildungswesens sei hausgemacht, den Lehrern, deren Vertreter Jahr um Jahr vor dem Mangel warnen, treffe keine Schuld. Sowieso habe das Ministerium bei keiner der bisherigen Unterredungen Zahlen über die konkreten Einsparbedarfe vorgelegt.

Das stimmt - und ist doch nicht ganz richtig. Beamten aus dem Ministerium zufolge wurde in der Tat während der sich über vier Monate hinziehenden Verhandlungen über die aktuelle und zukünftige Personalpolitik "noch nicht im Detail" geredet. Daten über Soll und Haben bei den Stellenplanung liegen gleichwohl vor: in Form der alljährlichen Planungsberichten, die auch die Gewerkschaften erhalten. Stimmen die Zahlen, fehlen demnach heute schon knapp 500 Lehrkräfte.

Die Zahl könnte aber sprunghaft steigen, wenn erst einmal das unsichere Statut der geringer qualifizierten und vor allem schlechter bezahlten Ersatzlehrer verbindlich geregelt ist (siehe d'Land vom 17. Februar 2006). Die Entscheidung des Verfassungsgerichts darüber, wie Statut und Arbeitsbedingungen der Lehrbeauftragten (chargés d’éducation) zu definieren sind, wird noch für Ende diesen, spätestens Anfang nächsten Monats erwartet. Dann ist auch bekannt, ob die Ersatzlehrer im selben Zeitumfang wie bisher unterrichten werden. Bis wiederum ein juristisch bindendes Urteil vom Verwaltungsgericht vorliegt, wird es allerdings noch ein paar Monate dauern.

Im Ministerium stellt man sich trotzdem jetzt schon auf eine Niederlage ein. Entsprechend groß ist der Druck, Lösungen für das worst-case-Szenario zu finden. Eine Anhebung der Tâche um eine Unterrichtsstunde würde grob gerechnet bei insgesamt 2 500 Sekundarschullehrern ein Plus von 2 500 Unterrichtsstunden ergeben beziehungsweise einen Einspareffekt von etwa 140 Lehrerposten. Das erklärt, warum die Ministerin von der Arbeitszeitverlängerung nicht lassen will. Sie kann es auch nicht.

Denn obwohl die Wirtschaftslage mit 7,3 Prozent Wachstum im ersten Jahresquartal alles andere als düster ist, wie vom Premier Jean-Claude Juncker noch im Frühjahr behauptet: mehr Beamtengehälter bedeuten langfristig höhere Kosten. Und die will der Staat auf jeden Fall vermeiden. Das Problem der Zulassungspraxis (concours de recrutement) bleibt zudem ungelöst. In der ministeriellen Arbeitsgruppe, die die Examen reformieren und so die Lehreranstellung vereinfachen soll, ist keine Einigung in Sicht.

Bewegung gibt es in einem anderen Bereich. Die Sommerferien hat die Ministerin genutzt, um einen Vorschlag zur neuerlichen Überarbeitung der erst im vergangenen Sommer geänderten Promotionskriterien vorzulegen. Bei den Lehrern und ihren Vertretungen war das Règlement grand-ducal vom Vorjahr, das die Kompensationsmöglichkeiten für lernschwache Schüler erweitert hatte und so Klassenwiederholungen reduzieren sollte, auf massive Kritik gestoßen. Der neue Vorentwurf sieht wieder strengere Promotionskriterien vor. "Das Unterrichtsministerium rudert zurück", frohlockte die Apess in einer Pressemitteilung Ende August. Doch der eilig proklamierte Sieg der Gewerkschaften ist eher symbolisch, dafür ist die Gruppe der von der Maßnahme betroffenen Schüler schlicht zu klein. Das Zurückrudern lässt sich außerdem anders lesen: als ein Zugeständnis an die Lehrergewerkschaften, um endlich weiterzukommen. Nicht zuletzt bei den Unterrichtsreformen, die sich die ehrgeizige LSAP-Ministerin für ihre Amtsperiode zum Ziel gesetzt hat und die nicht ohne die Lehrer  gehen. Konzepte lassen sich ohne große Zustimmung schreiben, für die Umsetzung braucht es die Akteure aus den Schulen. Das Machtverhältnis ist aber nicht so klar, wie es nach außen scheint. Die geltende Arbeitszeitregelung der Lehrer steht juristisch auf wackeligen Füßen. Als der Gesetzgeber vor 100 Jahren den Koeffizienten einführte, geschah dies vor dem Hintergrund der Fächer. Dass sich die Koeffizienten nunmehr im Wesentlichen auf die Klassengröße bezieht, hat sich erst im Laufe der Jahrzehnte ergeben. Wenn sich heute Gewerkschaften mit Verweis auf die derzeit geltenden Gepflogenheiten gegen eine Änderung des Koeffizienten sträuben, ist das nicht ohne Risiko. Denn außer dem Dinosaurier aus dem Jahre 1908 und dem Règlement grand-ducal von 1980 über den Personalbedarf im postprimären Bereich gibt es keine Vorschrift, die Besoldung und Arbeitszeiten präzise regelt. "Alle Seiten haben also ein Interesse daran, den Streit nicht vor den Gerichten auszutragen", schlussfolgert André Wilmes, Chef des Personaldienstes im Unterrichtsministerium.

Viel entscheidender ist aber, dass zumindest fortschrittliche Lehrer auch etwas zu verlieren haben. Bisher war noch keine Unterrichtsministerin bereit, tief greifende bildungspolitische Änderungen ta sächlich anzupacken. Mady Delvaux-Stehres hat wesentliche zum Teil auch gewerkschaftlich gewünschte Reformen nicht nur angekündigt, sondern damit begonnen, sie umzusetzen - wenngleich die Änderungen größtenteils mehr Zeit brauchen als ursprünglich vorgesehen und der sozialistische Reformeifer ebenfalls Grenzen kennt.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass mit dem SEW diejenige Gewerkschaft, die sich stets für einen grundlegenden Wandel in Luxemburgs Schulpolitik aussprach, nun zaudert und riskiert, zur Fortschrittsbremserin zu werden. Und dass die Bildungsministerin, die ihnen politisch eigentlich am nächsten stehen müsste, ihnen quasi als Gegnerin bei den Arbeitszeitverhandlungen gegenüber sitzt.

Dabei hat die LSAP-Ministerin das Schlamassel nicht einmal zu verantworten, sondern ihre christlich-sozialen und liberalen Vorgänger und Vorgängerinnen. Ihnen ist es zu verdanken, dass beides nun zusammenfällt: die schlimmste Personalnot lösen und zugleich mehr Zeit und Handlungsspielraum für pädagogische Entwicklung in die Schulen bringen. Das ist die Quadratur des Kreises. "Es wird ein intensives Schuljahr", sagt Ministeriums-Pressesprecherin Myriam Bamberg über die anstehenden Aufgaben. So kann man es auch nennen.

Ines Kurschat
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