Es ist ein Warnschuss der Luxemburger Abgeordneten in Richtung Brüssel. Es geht ums Streikrecht – und um die Frage, wer in Europa entscheidet

Aufgeschreckt

d'Lëtzebuerger Land du 01.06.2012

Als Gelbe Karte für die Europäische Kommission, so will die Abgeordnetenkammer ihre am 15. Mai einstimmig angenommene Resolution verstanden wissen. Die Kommission hatte zuvor, wie im Europäischen Vertrag vorgeschrieben, den nationalen Parlamenten ihren Vorschlag zum Monti-II-Paket vorgelegt, eine Verordnung über die Ausübung des Rechts auf kollektive Maßnahmen im Kontext der Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit. Sie sieht unter anderem vor, dass die Dienstleistungsfreiheit und soziale Grundrechte gegeneinander abgewogen werden müssen.

Der Text verstoße gegen das Subsidiaritätsprinzip, rügt die parlamentarische Kommission für Arbeit und Beschäftigung in ihrer Resolution. Mit dem Lissabon-Vertrag habe die Kommission zwar das Recht bekommen auch in Bereichen Initiativen zu nehmen, die nicht in ihre Zuständigkeit fielen (Art. 352), aber das Recht sei „censé rester exceptionnel“. Zudem seien laut Artikel 153,5 EVG die Versammlungsfreiheit und das Streikrecht von solchen Harmonisierungen „kategorisch ausgenommen“. „Es ist das erste Mal, dass wir die Gelbe Karte ziehen“, betonte Kammerpräsident Laurent Mosar (CSV) gegenüber dem Land

Der Rüffel in Richtung Brüssel war dem Parlament gar ein Pressekommunikee wert mit dem selbstbewussten Titel „La Chambre en chien de garde“. Es gilt, Flagge zu zeigen, schließlich geht es um eine Grundsatzfrage, nämlich darum, wer in Europa was wie entscheidet. Der Lissabon-Vertrag sichert den nationalen Parlamenten der EU-Länder zu, Gesetzesinitiativen und Regelungsvorschläge der Kommission binnen einer Acht-Wochen-Frist daraufhin zu überprüfen, ob diese gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen. 

Mit der Einschätzung, dass die Kommission mit der Monti-II-Verordnung ihren Kompetenzbereich überschritten habe, steht Luxemburg nicht alleine. Ein Drittel, Berichten zufolge zwischen acht bis zehn weitere EU-Mitgliedstaaten, hat die Vorlage der Kommission ebenfalls als Eingriff in nationale Entscheidungskompetenzen gerügt

Dass es mit der Monti-II-Verordnung Probleme geben könnte, hatte sich zuvor abgezeichnet: Beim jüngsten Treffen der Konferenz der Europaausschüsse (Cosac), die sich für eine engere Einbindung der nationalen Parlamente durch einen engeren Dialog mit Brüssel einsetzt, stand die Verordnung zuletzt im April auf der Tagesordnung. Er sei gezielt von anderen Abgeordneten angesprochen worden, bestätigt der Präsident der Außenkommission Ben Fayot (LSAP). Unter anderem die Dänen, die derzeit die Ratspräsidentschaft innehaben und als solche die Vertretung der Parlamente beherbergen, sowie die Schweden mobilisieren, fleißig gegen die Brüsseler Regelung. Aus Deutschland kamen ebenfalls Bedenken, allerdings gelang es den Bundestagsfraktionen im Ausschuss nicht, sich binnen der Frist auf eine gemeinsame Position zu verständigen. „So viel Einspruch kann die Europäische Kommission nicht einfach ignorieren. Jetzt muss sie sich erklären“, findet Fayot dennoch zufrieden. 

Aber auch die Brüsseler Bürokraten wissen sich unterstützt – vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg. Hintergrund der Verordnung ist nämlich ein von allen Akteuren – Gewerkschaften, Patronat und Regierungen – konstatierter Klärungsbedarf, der nach drei Aufsehen erregenden Entscheidungen des Gerichtshofes entstanden war. 

Bei den Urteilen Laval, Viking und Rueffert ging es um den Konflikt zwischen europäischen Grundfreiheiten wie der Niederlassungs- und der Dienstleistungsfreiheit einerseits, und der gewerkschaftlichen Aktionsfreiheit andererseits, vor allem dem Streikrecht. Die beiden erst genannten Fälle betrafen Ak-
tionen von Gewerkschaften, die diese den Unternehmer angedroht respektive gegen sie ergriffen hatten. Im Viking-Fall wollte eine finnische Reederei ein Schiff nach Estland so ausflaggen, um die Besatzung mit billigeren estischen Löhnen bezahlen zu können. Im Laval-Streit ging es um die Beschäftigung von lettischen Arbeitern durch eine lettische Baufirma zu lettischen Arbeitsbedingungen auf einer schwedischen Baustelle. Bei beiden Streitfällen haben die Gewerkschaften, Aktionen ergriffen oder wollten es, um nach ihrer Meinung Sozialdumping zu verhindern; die Unternehmer sahen sich ihrerseits in ihrer Niederlassungsfreiheit beschränkt. 

Im Laval-Urteil bestätigten die Luxemburger Richter zwar das Streikrecht als Grundrecht, schränkten dieses jedoch dadurch ein, als dass der Schutz der Grundrechte, hier das Streikrecht, „mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden sowie dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen“ müssten. Eine „höchst überraschende, der ursprünglichen Intention des Ministerrates mit hoher Wahrscheinlichkeit zuwiderlaufende Interpretation der Entsenderichtlinie“, wie Martin Höpner vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung damals schrieb1, die für einen Aufschrei nicht nur in Schweden und Finnland, sondern in vielen anderen westlichen Mitgliedstaaten sorgte. Als mit dem Rueffert-Urteil auch die Tariftreue-Regelung des niedersächsischen Vergaberechts als europarechtswidrig erklärt wurde, kommentierte DGB-Präsident Michael Sommer erbost: „So ein Europa wollen wir nicht.“ Der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog, zusammen mit dem Ökonom Lüder Gerken, schrieb im gleichen Zeitraum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung unter der Überschrift  „Stoppt den Europäischen Gerichtshof!“ sich die Wut von der Seele und schimpfte über die „Arroganz“ der europäischen Richter in Luxemburg.

Hierzulande war es dagegen weitgehend ruhig geblieben. Das änderte sich schlagartig, als auch die Luxemburger die Auslegung des Gerichtshofes zu spüren bekamen (d’Land vom 26. Juni 2008). Im Fall Kommission gegen Luxemburg ging es darum, ob die automatische Lohnindexierung in Luxemburg mit dem Prinzip des freien Dienstleistungsverkehrs vereinbar ist. Die EuGH-Richter urteilten: Nein. Die Gewerkschaften sahen darin eine Anmaßung von Kompetenzen, der OGBL organisierte daraufhin eiligst eine Protestaktion. 

Wenig überraschend, dass OGBL-Präsident Jean-Claude Reding den Vorstoß der Kammer und der anderen Nationalparlamente nun freudig begrüßt. Er sieht die gewerkschaftliche Linie bestätigt: Der OGBL hatte über den Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) die EuGH-Entscheidungen scharf kritisiert. In einer Stellungnahme hatte der EGB die Urteile Laval, Viking und Rueffert als „untragbar“ bezeichnet und sie als Angriffe auf „demokratische Entscheidungen“ in der Union verstanden: Hatten doch das Europäische Parlament und der Rat, mit den europäischen Gewerkschaften, um eine Neudefinition der umstrittenen Entsenderichtlinie zuvor heftig gerungen. Bei der Verabschiedung der Entsenderichtlinie durch den europäischen Gesetzgeber sei man sich damals „weitgehend einig“ darin gewesen, dass es sich um eine Minimalrichtlinie handelte, so der EGB. Diese Lesart hätten die Urteile des Gerichtshofes konterkariert. So dass der EGB vor allem eines wissen will: „Wer entscheidet letztlich? Der Richter oder der Gesetzgeber?“

„Mit der Vorlage bestätigt, ja verschärft die Kommission die Interpretation der Richter“, ärgert sich auch Serge Urbany. Der Abgeordnete von Déi Lénk kritisiert: „Eigentlich sollte die Kommission die umstrittenen Urteile so verarbeiten, dass die Wirkung der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit nicht soziale Grundrechte, die in ganz Europa gelten, aushebeln kann.“ 

Doch genau da liegt der Hase im Pfeffer: Als die  Europäische Union entstand, geschah dies mit dem Ziel eines freien Binnenmarktes. Ein Geburtsfehler, der dazu führt, dass in Europa die sozialen Grundrechte immer wieder zu kurz kommen, wie Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und (vor allem linke) Parteien seit Jahren monieren, und der eigentlich mit dem Lissabon-Vertrag behoben werden sollte. Doch auch die Europäische Grundrechte-Charta, die dem Lissabon-Vertrag beigefügt wurde,  hat das Problem nicht gelöst: Sie ist nicht rechtsverbindlich, weshalb bei Streitfällen nur der juristische Weg bleibt. Und das bedeutet, das zeigen die Urteile, eben keinen automatischen Schutz für Grundrechte wie das Streikrecht, sondern, im Gegenteil, er hebt marktbezogene Freiheiten wie die Freizügigkeit auf dasselbe Niveau mit verfassungsrechtlich garantierten sozialen Grundrechten, die im Streitfall sogar eingeschränkt werden können. Die nationalen Parlamente werden übrigens schon bald die nächste Gelegenheit haben, sich gegenüber Brüssel zu positionieren, dann nämlich, wenn das europäische Wachstumspaket vorliegt. Weil dabei so wichtige Ebenen wie die Fiskalpolitik berührt ist, und die Kommission in diesem Bereich keine Zuständigkeit hat, scheint die nächste Kraftprobe zwischen Nationalparlamenten und Brüssel vorprogrammiert. 

„Wir müssen viel grundsätzlicher diskutieren, welche sozialen Rechte wir in Europa wollen“, mahnt Ben Fayot. Eben diese Debatte wurde bislang in Luxemburg noch nicht in der Tiefe geführt. Das Bewusstsein der Parlamentarier sei erwacht, meint jedenfalls Kammerpräsident Laurent Mosar. Und auch Jean-Claude Reding vom OGBL stellt, unter anderem mit Blick nach Frankreich, wo der Präsident seinen Wählern ein sozialeres Europa versprochen hat, fest, dass „wir im Moment in einer Phase der Diskussion sind, die hoffentlich dazu führt, dass wir Änderungen bekommen werden“. 

Dass die deutschen Fraktionen es nicht fertig brachten, rechtzeitig Position zu beziehen, zeigt jedoch, dass offenbar nicht jeder den Ernst der Lage sieht. Da es sich bei Monti-II um eine Verordnung handelt, wäre diese unmittelbar rechtskräftig. Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn (LSAP) versicherte derweil gegenüber dem Land: Die Regierung werde darüber wachen, dass das Streikrecht, „so wie im Gesetz definiert“, garantiert bleibt.

1 Usurpation statt Delegation. Wie der EuGH die Binnenmarktintegration radikalisiert und warum er politischer Kontrolle bedarf, Martin Höpner, MPlfG Diskussionspapier 8/12
Ines Kurschat
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