Am Montag begann die „Zukunftsdiskussion“

Die müde Debatte von Belval

d'Lëtzebuerger Land vom 11.11.2016

Der 700 Plätze bietende große Hörsaal der Universität Luxemburg in der Maison du Savoir in Belval war höchstens zu einem Viertel besetzt, als am Montag die Regierung in den versprochenen Dialog mit der Zivilgesellschaft über das „qualitative Wachstum“ des Landes trat und die Öffentlichkeit zum Mitdiskutieren eingeladen war. Auch CSV-Präsident Marc Spautz war gekommen. Er hat seit dem Frühjahr besonders laut einen „Zukunftstisch“ verlangt. „Wie viel Wachstum wollen wir? Wie viel Wachstum brauchen wir?“, solle dort diskutiert werden, hatte er am 9. April im Luxemburger Wort geschrieben und erklärt: „Für die CSV gibt es Alternativen zum 1,1-Millionen-Einwohnerstaat.“

Weil der Rentendësch von 2001 gelehrt hat, dass Gespräche an „Tischen“ eine unvorhersehbare politische Eigendynamik entfalten können, hatte die vorige Regierung der Opposition und dem Unternehmerdachverband UEL einen „Zukunftstisch“ angesichts von zu wenig Wachstum verwehrt. Da konnte es überraschen, dass die DP-LSAP-Grüne-Regierung, die sich vor einem halben Jahr noch zierte, Ende Juni schließlich doch eine „breite Zukunftsdiskussion“ für den Herbst angesichts von zurzeit wieder viel Wachstum in Aussicht stellte.
Doch wie sich am Montag zeigte, ist alles nur eine Frage der richtigen Schwerpunktsetzung und der Dramaturgie. Ist abgesteckt, wohin die Diskussion führen soll und wohin nicht, dann kann eine Regierung sich eine Zukunftsdebatte mit parlamentarischer Opposition und Zivilgesellschaft nicht nur leisten, sondern sogar gestärkt daraus hervorgehen.

Denn wie die ziemlich entgeisterte Mouvement-écologique-Präsidentin Blanche Weber später feststellen musste, wollte Nachhaltigkeitminister François Bausch (Déi Gréng) auch wenn die Debatte mit „Wéi e qualitative Wuesstum fir eist Land?“ überschrieben war, nicht über ein Wirtschafts- und Sozialmodell für die nächsten 20 bis 25 Jahre sprechen, sondern nur über Landesplanung, sein Ressort eben. Da war es nicht schlimm, dass die Tontechnik im Hörsaal versagte und François Bausch nach ein paar Minuten das sehr in Mode gekommene Mikrofon-Headset gegen ein klobiges Handmikrofon eintauschen musste: Er lief auch damit wie ein routinierter Entertainer über die große Bühne des Auditoriums und gab den überwiegend älteren Herrschaften im Saal und dem grand public per Live-Stream eine Vorlesung über Wachstumsmanagement durch intelligentes Verwalten der knappen Landesfläche. Was es, wie er zu erwähnen nicht vergaß, „seit 2004 ja nicht mehr gegeben“ habe.

Weil im Frühjahr CSV und ADR die Regierung mit der Bevölkerungsprognose für das Jahr 2060 gehörig vor sich her getrieben hatten, hütete François Bausch sich, demografische Projektionen in den Mund zu nehmen. Nicht die vielleicht 800 000 Einwohner um die Mitte der 2030-er Jahre, von denen er selber im Juni gesprochen hatte, geschweige die 1,1 Millionen, die das EU-Statistikamt Eurostat vor zwei Jahren errechnete, als es die Bevölkerungstrends, die es hierzulande bis 2012 gab, ein halbes Jahrhundert in die Zukunft extrapolierte. Stattdessen erwähnte der Minister lediglich einmal: Was in den Flächennutzungsplänen (PAG) der 105 Gemeinden derzeit an Wohnbauland ausgewiesen ist, kann 740 000 Bürgern Platz bieten. Immerhin mehr als der 700 000-Einwohnerstaat, um den CSV-Premier Jean-Claude Juncker vor 15 Jahren Panik geschürt hatte.

Für den Umgang damit gibt es für den Landesplanungsminister und die Regierung drei Optionen: Beim „Weiter so“ drohe, so der Minister, trotz allen laufenden und noch geplanten Investitionen in die Transportinfrastruktur das Verkehrschaos. Pendlerströme ab der Hauptstadt über Land und ins Ausland, die einer bösen roten Spinne glichen, projizierte Bausch auf die Leinwand. In dem Fall gäbe es ein Bevölkerungswachstum zwar auch in der Hauptstadt, aber es wäre mit 22 Prozent kleiner als im Landesdurchschnitt von 28 Prozent, und Landgemeinden würden „spektakulär“ wachsen, Ulflingen etwa um 2 000 Einwohner. Dagegen nähme die Arbeitsplatzkonzentration in Luxemburg-Stadt immer weiter zu.

Ist dieses Szenario für die Regierung „Diffus et désordonnée“, ist das zweite „Dirigé et théorique“: Es geht ungefähr in die Richtung, die 2003 im Leitprogramm für die Landesplanung festgehalten wurde, das neben der Hauptstadt je ein „Oberzentrum“ in Esch/Alzette und der Nordstad um Ettelbrück und Diekirch entwickeln will und daneben noch zwölf kleinere „Centres de développement et d’attraction“ (CDA): Grevenmacher und Echternach im Osten beispielsweise, Clerf und Wiltz im Norden, Redingen im Westen, Düdelingen und Differdingen im Süden. In diesem Szenario würde die Bevölkerung stärker in diesen 15 „Zentren“ konzentriert, die Arbeitsplätze würden stärker weg von der Hauptstadt angesiedelt.
Vor allem, weil man sich fragen kann, ob Letzteres realistisch ist, ist diese Option für die Regierung „theoretisch“.

Dagegen würde im dritten Szenario, das mit „Organisé et harmonieux“ am erfreulichsten überschrieben ist, drei Ballungsräume besonders entwickelt: „AggloLux“ würde im Zentrum von Luxemburg-Stadt aus bis nach Mamer und Mersch reichen und südlich der Hauptstadt in „AggloSud“ übergehen, das mit Esch und Sassenheim und dem gemeinsamen Belval als Kern den gesamten urbanen Süden umfassen würde. „AggloNord“ entspräche der konsequenten Entwicklung der Nordstad. Darüberhinaus gäbe es noch elf kleinere Schwerpunktgemeinden. In dem dritten Szenario wäre das Bevölkerungswachstum in der Hauptstadt besonders stark, für jeden neuen Einwohner würde jedoch nur ein Arbeitsplatz neu angesiedelt. Stattdessen gäbe es – so die Theorie – mehr Arbeitsplätze entlang einer Achse durchs Alzettetal Richtung Mersch. Würde dieses Szenario Wirklichkeit, dann wären laut Minister die Verkehrsströme gut beherrschbar. Sie würden entlang der Bahn- und Straßenkorridore kanalisiert, die schon bestehen oder noch ausgebaut werden müssten.

Über diese Optionen will François Bausch diskutieren lassen und anschließend ein neues landesplanerisches Leitprogramm schreiben. Er wehrte sich dagegen, dass die Szenarien-Diskussion, die er in „regionalen Workshops“ in den nächsten sieben bis acht Monaten führen will, keine Wachstumsdebatte sei. Das ist schon richtig: Es geht dabei um Geld und potenziell viel Politik. Je nachdem, wie die Entscheidung zwischen den Szenarien ausfiele – für die Regierung kommt nur das zweite, das dritte oder eines dazwischen in Frage –, müsste bestimmten Gemeinden ein besonderes Wachstum ermöglicht, anderen dagegen weiteres Wachstum untersagt werden. Darüber nur ein paar Monate vor den nächsten Gemeindewahlen abschließend befinden zu wollen, ist durchaus verwegen. Zumal je konsequenter man sich für die Option mit den drei „Agglos“ entschiede, die Gemeindefinanzreform, die zurzeit im Parlament liegt, noch einmal abgeändert werden müsste.

Die zehn Vertreter der Zivilgesellschaft, die nach dem Minister-Vortrag in nebeneinander aufgereihten niedrigen Sesseln auf der Bühne Platz nahmen, schienen nicht so recht zu wissen, worüber sie diskutieren sollten. Über Raumplanung und die drei Szenarien der Regierung zu reden, war ihnen schwer möglich: Wie Blanche Weber sich beschwerte, hatte das Nachhaltigkeitsministerium es abgelehnt, die 83 Seiten lange Powerpoint-Schau des Ministers vorab zu verschicken.

Und so nahm die Diskussion einen eigenartigen Fortgang. Im Gegensatz zum angekündigten „Débat avec experts, forces vives et grand public“, war Alexandra Guarda-Rauchs vom Prognostikerverband Solep die einzige Expertin, und eine Debatte blieb bis zum Schluss aus. Blanche Weber hätte gern über „ein anderes Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozial-
modell“ gesprochen und Caritas-Generalsekretär Robert Urbé darüber, „ob wir Wachstum überhaupt wollen“. Doch weder widersprachen beide dem Vertreter des Gemeindeverbands Syvicol, Paul Weidig, für den „klar“ ist, „dass wir Wachstum brauchen“, noch belehrte Blanche Weber die Vertreterin des Jugendparlaments, Djuna Bernard, die keck erklärte, seien die Wege zwischen Wohnort, Arbeitsplatz und Freizeitangebot „kurz“, dann „kann ich auch mit quantitativem Wachstum leben“. Dass Guy Feyder, Vorstand der Landwirtschaftskammer, meinte, die Leute sollten sich, wie die den Fährnissen des Wetters ausgesetzten Landwirte, daran gewöhnen, „dass es ihnen nicht immer nur besser, sondern auch mal schlechter gehen kann“, reizte CGFP-Generalsekretär Romain Wolff nicht zum Widerspruch. Obwohl er später klagte, wer nach Abschluss seiner Berufsausbildung nur eine befristete Anstellung erhalte, bekomme „von keiner Bank einen Immobilienkredit“ und „von dem Geld, von dem wir uns noch ein schönes Haus kaufen konnten, können unsere Kinder sich heute höchstens ein Studio leisten“.

Ob das Recht auf Wohnen ein Recht auf Besitz sei wollte wiederum niemand wissen. In der ersten Zuschauerreihe sitzend, aber weit genug vom Podium entfernt, um nicht in eine „Debatte“ hineingezogen zu werden, sahen die drei Minister François Bausch, Dan Kersch (LSAP) und Marc Hansen (DP) dieser Mühsal mal belustigt, mal gelangweilt zu. Nicht einmal die Steilvorlage von Fedil-Direktor René Winkin, die ein Einstieg in eine Wirtschafts- und Sozialdebatte hätte sein können, wurde auf der Bühne aufgegriffen: Er skizzierte die automatisierten „Industrie 4.0“: Die Industrie müsse „radikal mit den Arbeitskräften brechen, da sind wir mittendrin“. In der automatisierten Zukunft brauche man „womöglich nicht mehr so viele Grenzpendler, dann geht auch der Verkehr zurück“. Allerdings müsse der Kapitaleinsatz für die aufwändigen Investitionen in die Automatisierung „aus dem produzierten Mehrwert entlohnt werden, der Anteil der Gehälter daran muss sinken“.

Gebremste Verkehrsflüsse dank innovationsfreundlicher Wirtschaftspolitik und einer Steuerpolitik, die eine hohe Rendite auf den Kapitaleinsatz ermöglicht, wobei dann nicht nur Arbeitskräfte wegautomatisiert, sondern die Gehälter der Verbleibenden womöglich zusätzlich unter Druck geraten würden, war das so gemeint? Seltsamerweise interessierte sich dafür nicht einmal OGBL-Exekutivmitglied Nico Clement wirklich. Den Aussichten auf die Industrie 4.0 setzte er nur eine ziemlich kleinlaute Forderung nach „Weiterbildung“ der Arbeitskräfte entgegen, die für den Fedil-Direktor allerdings „selbstverständlich“ ist.

So leidenschaftslos wie die Diskussion bis zum Schluss blieb, wonach alle zum Ehrenwein schritten, konnte François Bausch sich freuen, die „Phantomdebatte“ über den 1,1-Millionen-Einwohnerstaat auf eine Ebene heruntergeholt zu haben, „mit der die Leute etwas anfangen können“, und wo ein grüner Politiker, der die knappe Landesfläche intelligent zu managen verspricht, nicht schlecht aussieht. Michel Reckinger, Präsident des Handwerkerverbands, lobte die Regierung: Sie hole auf, „was 15 Jahre lang in der Landesplanung versäumt wurde“. Das richtete sich an die Adresse der CSV und ihrer Ex-Minister Jean-Marie Halsdorf und Claude Wiseler. Dass Spitzenvertreter des Unternehmerlagers nicht nur auf dem Podium, sondern auch im Saal saßen, demonstrierte, dass die Unternehmer der Regierung, von der sie sich in Angelegenheiten wie der Arbeitszeitregelung vor einem halben Jahr noch aufs Kreuz gelegt fühlten und nicht mehr viel von ihr zu erwarten schienen, wieder deutlich wohler gesonnen sind. CSV-Präsident Marc Spautz erklärte nach der Veranstaltung, „warten wir mal den Donnerstag ab“, wenn, nach Redaktionsschluss dieser Ausgabe, der Nachhaltigkeitsminister, der Wirtschafts-, der Finanz- und der Wohnungsbauminister zum Wachstums-Streitgespräch mit CSV, déi Lénk und ADR angetreten sein würden.

Die spannendere Veranstaltung fand wahrscheinlich tatsächlich gestern Abend statt. Wenn am heutigen Freitagmorgen der Regierungsrat über den Rifkin-Bericht zur „smarten“ wirtschaftlichen Zukunft befindet und kommenden Montag darüber sechs Stunden lang in den Messehallen diskutiert wird, wird erneut über „Wachstum“ zu reden sein. In zwei Wochen bei einer großen Debatte im Parlament zum Thema „Wettbewerbsfähigkeit“ ebenfalls, und last but not least wird der Regierungsrat am
2. Dezember den Bericht über die Zehn-Jahres-Vorausschau der Rentenkasse entgegennehmen.

In letzter Konsequenz ist die Zukunfts- und Wachstumsdiskussion gerade eine rentenpolitische. Die Regierung hat den vom März 2015 datierenden Bericht der Ageing Working Group der EU-Kommission über die Wachstumsaussichten von Einwohnerzahl und BIP und deren Auswirkungen auf die „implizite Staatsschuld“ zur längerfristigen Finanzierung von Sozialstaat und Bildungssystem nicht als Phantom zur Kenntnis genommen. Stattdessen hat sie ihn als Argument benutzt, um das mittelfristige Haushaltsziel von einem Überschuss von 0,5 BIP-Prozent auf ein Defizit in derselben Höhe korrigieren zu können und zumindest bisher keinen rentenpolitischen Handlungsbedarf bis zum Ende der Legislaturperiode ausmachen zu müssen, weil sich damit schnell Wahlen verlieren lassen. Wie weit die CSV in dieser Frage gehen wird, bleibt abzuwarten; ihr Spitzenkandidat Claude Wiseler hatte in seinem 18-Punkte-Programm, das er auf dem Parteitag am 8. Oktober vorstellte, angekündigt, den „positiven wirtschaftlichen Kontext“ für eine „nachhaltige Absicherung“ des Pensionssystems nutzen zu wollen.

Doch angesichts der Weltlage, der EU-Krise und des Wahlausgangs in den USA stellt sich die Frage, wie lange der Kontext positiv bleibt. Am Ende könnten alle Beteiligten sich dabei wiederfinden zu beten, dass das Wachstum bloß nicht einbricht, damit keine Zukunftsangst um sich greift. Ein wenig davon schien bereits am Montag in Belval zu verspüren.

Peter Feist
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