Übergewichtige Jugendliche

Lieber dick als doof

d'Lëtzebuerger Land vom 17.08.2006

Was für ein Sommer für Luxemburgs Leistungssport! Erst der Sieg der Königsetappe von l’Alpe d’Huez durch Radfahrer Fränk Schleck bei der diesjährigen Tour de France, dann der neunte Platz von Extremläuferin Monique Mühlen beim 217 Kilometer langen Badwater-Ultramarathon in Kalifornien, nun auch noch die Silbermedaille im 800-Meter- Lauf durch David Fiegen bei den Europameisterschaften in Göteburg. Der Sport ist in aller Munde. Aber eben nur in aller Munde.

Dass es mit der körperlichen Fitness allgemein sonst nicht zum Besten bestellt ist, hatte eine bei der Universität Karlsruhe in Auftrag gegebene und im April veröffentlichte Studie zur Gesundheit, motorische[n] Leistungsfähigkeit und körperlich-sportliche[n] Aktivität von Kindern und Jugendlichen in Luxemburg ergeben: 13,2 Prozent der Neun-, 14- und 18-Jährigen haben Übergewicht, 6,5 Prozent sind adipös, also fettsüchtig.

Die Untersuchung sollte den Auftakt einer nationalen Gesundheitskampagne bilden. Es dauerte drei Monate, da stellten die Auftraggeber aus Gesundheits-, Erziehungs- und Sportministerium gemeinsam mit dem Familienministerium einen Aktionsplan zur Förderung von gesunder Ernährung und körperlicher Aktivität vor. Einen weiteren Monat später, Anfang August, präsentierte ein gut gelaunter Gesundheitsminister mit dem CRP-Santé ein neues Forschungsprojekt zur Fettleibigkeit von Kindern. Die Bevölkerung sei sich der „Gravität der Situation“ nicht bewusst, mahnte Mars di Bartolomeo in einem Voix-Interview und verwies auf Risiken von Herz- und Kreislauferkrankungen.

Dass der Normalbürger das Thema Dicksein und Gesundheit eher gelassen sieht, erstaunt nicht. Einer Umfrage von TNS/Ilres zufolge sind 77 Prozent der männlichen Bevölkerung eigenen Aussagen nach „bei guter bis sehr guter Gesundheit“. In der Motorikstudie schätzten sogar 95 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen ihren Gesundheitszustand als gut bis sehr gut ein. Hinzu kommt, dass die politisch Verantwortlichen selbst das Thema viele Jahre haben schleifen lassen. Auftakt der plötzlichen Fitnesseuphorie bildete eine Konferenz von Sportmediziner im Jahr 2004 und, wie so oft, Vorgaben aus Brüssel.

Bei so viel Aktionismus – es kommt nicht oft vor, dass vier Ministerien einen Aktionsplan erstellen – lohnt sich ein genauer Blick. Denn so einfach, wie oft dargestellt, ist der Zusammenhang zwischen Bewegung und gesundem Leben respektive Schlanksein nicht. Bisher hat sich offenbar niemand die Mühe gemacht, die 270-Seiten starke Motorikstudie einmal genauer zu lesen: Die Beweise für das Fazit der Autoren, die Untersuchung hätte „die herausragende Bedeutung von Bewegung und Sport als eine Möglichkeit der Gesundheitsförderung im frühen Kindesalter deutlich unterstrichen“, fallen längst nicht so eindeutig aus.

Es gibt zwar relevante Korrelationen zwischen motorischer Leistungsfähigkeit und Gesundheitsmaßen; zwischen der körperlich-sportlichen Aktivität und den Gesundheitsmaßen zeigen sich aber erst ab der Sekundarstufe 2 signifikante Beziehungen. Bei den „härteren“ Gesundheitsmaßen (dazu zählen Krankheiten) zeigen sich keinerlei bedeutsame Zusammenhänge. Will heißen: Wer viel Ausdauer hat, wer viele Liegestütze packt, der ist wahrscheinlich insgesamt gesünder. Hingegen sind Bewegung und Vereinssport noch lange keine Gewähr dafür, auch objektiv gesünder zu sein. Mit steigendem Alter könnte sich dies jedoch ändern. Beim Gesundheitsverhalten (Ernährung und Alltagsdrogen wie Tabak und Alkohol) haben die Wissenschaftler ebenfalls keinen bedeutsamen Zusammenhang mit der körperlichen Aktivität oder der motorischen Leistungsfähigkeit nachweisen können. Die vom Gesundheitsminister und Ex-Raucher vorgegebene Lebensmaxime: Wer sich bewegt, gesund ernährt, wenig trinkt und wenig raucht, lebe gesünder, ist so also nicht richtig, sie stellt ein komplexes Phänomen verkürzt dar.

Auf Nachfrage des Land räumt Ko-Autorin Annette Worth aus Karlsruhe denn auch ein, sie würde das Fazit der Studie „so heute nicht mehr formulieren“. Eines aber habe die Untersuchung durchaus bewiesen: dass motorisches Leistungsvermögen einen Einfluss auf die Gesundheit hat und Bewegung „ein Baustein“ für ein gesünderes Leben ist. Die Frage ist, welchen Einfluss genau, und welche anderen Bausteine, genetische, soziale, individuelle, spielen außerdem eine Rolle?

Die Unklarheiten sind keineswegs spezifisch luxemburgisch; internationale Studien tun sich insgesamt schwer, die Beziehung zwischen Übergewicht und Bewegungsarmut auf der einen und Krankheiten beziehungsweise höheren Sterblichkeitsraten auf der anderen Seite exakt zu ermitteln. Auch Hochrechnungen, wonach bei ungebremstem Trend bald jeder zweite Erwachsene adipös würde, wie sie die ehemalige deutsche Verbraucherministerin Renate Künast bei Vorstellung ihrer Kampagne gegen Übergewicht bei Kindern anstellte, sind mit Vorsicht zu genießen: Würde sich der Weltmarktpreis für Erdöl so weiter entwickeln wie in den vergangenen zwei Jahren, kostete der Liter in zwei Jahrzehnten mehr als eine Villa am Boulevard Royal. Das ist natürlich blanker Unsinn. Deutsche Experten warnen zudem vor der Zweischneidigkeit von Kampagnen à la „Moby Dick“ oder „Powerkids“: Sie laufen Gefahr, das Vorurteil zu bestätigen, Dicke seien nur zu faul, sich zu bewegen und vernünftig zu essen.

Seriöse Aussagen zur gesunden Ernährung und ihre Auswirkung auf die Gesundheit sind ohnehin schwierig. Dass damit nicht bloß das Weglassen von fett- und kohlenhydratehaltiger Nahrung gemeint sein kann, betonen Ernährungswissenschaftler seit Jahren, oft vergeblich. In seinem Aufsehen erregenden Artikel zur Dicken-Debatte in den USA, What if It’s All Been a Big Fat Lie?? (2002), schrieb Gary Tauber, Autor des Wissenschaftsjournals Science, dass die fettarmen Ernährungsrichtlinien des National Institute of Health aus den Achtzigerjahren eher den gegenteiligen Effekt hatten und Fettsucht sogar förderten. Die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sind, Wissenschaftlern zufolge, ebenfalls nicht auf dem neuesten Stand. In dem Sinne darf man schon jetzt gespannt sein, was das Gesundheitsministerium damit meint, wenn es im Aktionsplan die „élaboration de recommandations nationales en matière d’alimentation saine et d’activité physique“ in Aussicht stellt. Um zu gewährleisten, dass in der noch zu gründenden „groupe permanent de surveillance et d’adaptation“ kompetente Entscheidungen fallen, braucht es neben Ernährungsspezialisten vor allem einen kritischen Blick auf Modetrends, und Weltanschauungen.

Dass sozioökonomische Faktoren eine Rolle bei der Gesundheit spielen, ist in der Forschung immerhin unumstritten. Dicke Menschen sind eher arm und haben weniger Geld für ihre Gesundheit. Für diese Beobachtung gibt es auch in der Luxemburger Studie Indizien: Rund 30 Prozent der männlichen und nur elf Prozent der weiblichen Schüler des Modularunterrichts erfüllen die activity guidelines der Weltgesundheitsorganisation nicht. Im Vergleich zu ihren Kameraden aus dem klassischen Lyzeum (39 beziehungsweise 25 Prozent) bewegen sie sich deutlich seltener eine Stunde am Tag und mehr. Wenn also stimmt, dass neben anderen Faktoren soziale die Gesundheit wesentlich mitbestimmen, dann spricht das vor allem dafür, mehr Bewegungsangebote in die Schulen zu bringen. Je früher, je besser. Anders als in Vereinen, die insbesondere von Kindern besser gestellter Familien besucht werden, werden in der Schule alle erreicht.

Doch ausgerechnet hier gibt es oft unzureichend Gelegenheit, sich zu bewegen. In der Primärschule sind drei Stunden für Sport vorgesehen, im technischen Sekundarunterricht zwei, und im klassischen, abgesehen von der siebten Klasse, wird nur eine Sportstunde wöchentlich angeboten. „Erschreckend wenig“, fin- det Sportwissenschaftlerin Annette Worth. Die parlamentarischen Anfragen der DP-Abgeordneten und Ex-Sportlerinnen Anne Brasseur und Colette Flesch, ob die von Sportlehrern seit über 30 Jahren geforderte zusätzliche Sportstunde eingeführt werde, ist berechtigt – und heuchlerisch zugleich. Es war Unterrichtsministerin Brasseur, die Forderungen des Sportlehrerverbands Apep (ehemals Apepep) nach einer Aufwertung des Schulsports seinerzeit ablehnte. Ehrlicher fällt die Antwort von Sportsminister Jeannot Krecké aus: „C’est un processus délicat qui demande de prendre en conscience de nombreux aspects.“

Eine Ausdehnung des Sportunterrichts würde, ebenso wie die von der Apep geforderte Einführung einer Sportsektion auf der gymnasialen Oberstufe, das „sensible Fächergleichgewicht“ beeinträchtigen, heißt es präzisierend aus dem Unterrichtsministerium. Weshalb der Aktionsplan zu diesem Punkt einfach schweigt. Und Sportlehrer wie Apep-Präsident Robert Thillens verärgert von „Effekthascherei“ und „fehlendem politischen Willen“ sprechen. Würden die Verantwortlichen im Ministerium ihre eigenen Forschungsergebnisse ernst nehmen, müssten in der Tat bewegungsbezogene Maßnahmen oberste Priorität haben. Stattdessen wird Geld für die für 2007 geplante Weiterbildung für Schulkantinenköchen mit dem englischen Popstarkoch Jamie Oliver ausgegeben – und auf löbliche, aber vereinzelte Initiativen wie die Escher Ganztagsschule Jean-Jaurès verwiesen. Deren Stundenplan sieht eine Stunde Bewegung pro Tag vor, ähnlich wie im Neie Lycée. Von ganzheitlichen Ansätzen einer „bewegungsfördernden Schule“ steht im Luxemburger Plan aber nichts. In der „bewegten Schule“ werden in Deutschland bewegungsangeleitete Unterrichtsmethoden und Organisationsformen propagiert: Statt „Sitz ruhig!“ lautet die Maxime „Kinder brauchen Bewegung!“ Flexible Sitzgelegenheiten, tägliche Lockerungs- und Entspannungsübungen sollen das rezeptiv-passive Körperverhalten der heutigen „Sitzkindergeneration“ aufbrechen und Entwicklungsstörungen vorbeugen helfen – und zwar in allen Fächern.

In Luxemburg sind dies Fremdwörter; in den meisten Klassen, vor allem im Sekundarunterricht, ist Bewegung strikt auf den Sportunterricht oder den Pausenhof beschränkt. Immerhin hat sich im Unterrichtsministerium unter Mitwirkung der Sportlehrer kurz vor den Ferien eine Arbeitsgruppe gebildet, die ab September die 20 Jahre alten Sportcurricula endlich überarbeiten will. „Dabei werden ganzheitliche, fächerübergreifende Ansätze eine Rolle spielen“, verspricht Astrid Schorn, die im Ministerium die Lehrplanreform organisiert.

Es ist aber nicht nur das Unterrichtsministerium, das sich mit grundlegenden Änderungen schwer tut. In den anderen Ministerien ist ebenfalls noch nicht viel Neues in punkto Aktionsplan geschehen. Vielmehr wurden bestehende Aktivitäten einfach im Plan zusammengefasst, darunter viele Einzelmaßnahmen. Der Sportsminister will in den nächsten Monaten mit Akteuren aus Gemeinden, Vereinen und Sportsverbänden beraten, wie sich der nicht-wettkampforientierten Breitensport fördern ließe. Dessen Angebot fällt in Luxemburg nämlich vergleichsweise mager aus. Pilotprojekte sollen best practises ermitteln – die Erfahrung lehrt, dass Modellversuche von der Politik meist dann eingesetzt werden, wenn man vor „harten“ Maßnahmen zurückschreckt.

Auch im Familienministerium muss sich die Arbeitsgruppe erst noch finden, um das proklamierte Ziel gesunde Ernährung in den Maisons relais und Jugendhäusern mit konkreten Schritten zu verbinden. Das Gesundheitsministerium plant eine Informationskampagne zur Ernährung, leider waren die Verantwortlichen im Urlaub und andere Mitarbeiter konnten keine Auskunft geben, was diese genau beinhaltet und wann sie starten soll. Zeitvorgaben nennt der Aktionsplan ohnehin keine, nach dem Motto: bloß nicht festlegen. Das Papier habe „noch vor den Ferien“ vorgestellt werden sollen, sagt Pierre Jaeger, im Familienministerium für den Plan zuständig. Bei so vielen Ankündigungen bleibt abzuwarten, ob die versprochenen Aktionen nach den Ferien kommen werden – und die betreffenden Politiker ihrer Parole selbst Folge leisten: Bewegt euch!

Ines Kurschat
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