Leitartikel

Verlorenes Jahrzehnt

d'Lëtzebuerger Land vom 22.08.2014

Die Nachrichten vergangene Woche waren erschreckend: Im zweiten Quartal dieses Jahres schrumpfte die deutsche Wirtschaft um 0,2 Prozent. In Frankreich stagnierte das Wirtschaftswachstum, wie schon im Quartal zuvor. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, Italien, hatte schon eine Woche zuvor angekündigt, dass ihr Wirtschaftswachstum wieder negativ ist. Eurostat meldete, dass die Wirtschaft in den 18-Ländern der Eurozone stagnierte, nachdem sie im ersten Quartal um gerade 0,2 Prozent gewachsen war. Damit erweisen sich die bescheidenen Vorhersagen der Europäischen Zentralbank, die für die Wirtschaft der Eurozone dieses Jahr gerade ein Prozent Wachstum erwartet hatte, als unrealistisch.

Gleichzeitig beträgt die Arbeitslosenquote im Währungsraum weiterhin mehr als elf Prozent; hinzu kommt ein Heer von Erwerbslosen und Unterbeschäftigten, die von der Arbeitslosenquote nicht erfasst werden. Mit Ausnahme von Deutschland, den Niederlanden und Malta gingen die Verbraucherpreise im Juli im Vergleich zum Vormonat überall zurück. Die Inflationsrate ist inzwischen so niedrig, dass sogar in der Europäischen Zentralbank über das Risiko einer Desinflation geredet wird. Dabei wird hierzulande stets darüber diskutiert, wie viel Inflation die für den 1. Januar angekündigte Mehrwertsteuererhöhung verursachen wird, aber nicht, wie viel Wachstum sie verhindern wird.

Diese Zahlen nähren die Befürchtung, dass, nach der tiefsten Finanz- und Wirtschaftskrise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die europäische Wirtschaft dabei ist, ein „verlorenes Jahrzehnt“ zu durchleben, in dem sich schwache Auf- und Abschwungphasen abwechseln und saldiert die Wirtschaft stagniert. So dass weitere Millionen Existenzen zerstört werden und die Krise zunehmend als Dauerzustand empfunden wird.

Eine der Ursachen dafür ist die einseitig angebotsorientierte Wirtschaftspolitik und die institutionalisierte Austeritätspolitik im Euro-Raum, welche zusammen mit der hohen Arbeitslosigkeit und der Kürzung der Sozialtransfers die Nachfrage belasten. Dass die Wirtschaft in den USA mit ihrem großen Binnenmarkt deutlich kräftiger wächst als in den merkantilistischen Euro-Staaten, hat weniger mit dem rudimentären Arbeitsrecht und dem traditionellen Kriegs-Keynesianismus zu tun, als mit der energischen Erhöhung der Geldmenge und dem Aufkauf von Schuldverschreibungen durch die Zentralbank – ohne dass die Inflation nennenswert zugenommen hätte, wie immer wieder behauptet wurde.

Versuchten die Euro-Staaten und die Privathaushalte noch anfänglich, ihre rückläufige Kaufkraft durch Verschuldung zu kompensieren, so ist diese Quelle trotz Niedrigstzinspolitik inzwischen am Versiegen. Dabei führt das stagnierende Wirtschaftswachstum auch dazu, dass Länder wie Frankreich oder Italien, trotz aller Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen, ihr Staatsdefizit nicht verringern können, während es an der Inflation fehlt, um die Staatsschuld auf „natürlichem“ Weg abzubauen.

Hierzulande wächst die Wirtschaft noch immer schneller als in den meisten anderen Euro-Staaten und macht dadurch nicht zuletzt der neuen Regierung das Leben einfacher. Aber wenn der schwächliche Aufschwung in der Euro-Zone, das heißt bei Luxemburgs Haupthandelspartnern, bald wieder vorüber wäre, bliebe das auch nicht ohne Folgen für die Luxemburger Wirtschaft – und für die Staatsfinanzen, die vor einer kopernikanischen Wende stehen sollen.

Romain Hilgert
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