Neie Lycée

Neue Freiheit im Container

d'Lëtzebuerger Land vom 22.12.2005

Der erste Blick fällt auf den Fernseher. Etwas klobig steht er da, mitten im Eingang des Neie Lycée. Auf dem Bildschirm sind Schüler einer Modellschule irgendwo in Süddeutschland zu sehen, die von ihrem Lehrer per Handschlag begrüßt werden.* Danach packen sie Stifte, Blöcke und Figuren aus und beginnen sich zu beschäftigen. Jeder für sich. Ganz leise. In der Luxemburger Modellschule Neie Lycée (NL), die diesen September auf dem Paul-Wurth-Gelände in der Rue de l’Aciérie ihre Pforten öffnete, kann von Ruhe keine Rede sein. Es ist kurz vor halb elf. Jungen und Mädchen im Teenageralter eilen über den Flur auf dem Weg in den nächsten Unterricht. „Französisch“, stöhnt Fanny und verschwindet im „Parloir“, einem winzigen Raum im zweiten Stock der provisorischen Containerschule. Die nächsten 100 Minuten wird die Zwölfjährige gemeinsam mit ihrem Lehrer Jean-Louis Weis und sieben weiteren Schulkameraden aus Classique, Technique und Régime préparatoire Französisch sprechen. Die Gesprächsthemen dürfen sie selbst aussuchen, zu Hause, aus Zeitungen und Zeitschriften oder in der schuleigenen Bibliothek. „Monet est cool“, findet Tun, der ein Buch über französische Maler mitgebracht hat. Bald ist eine Debatte darüber im Gange, ob Picassos Meisterwerke nicht eher kindische „peintures français“ seien. „Françaises“ korrigiert Jean-Louis Weis freundlich. Ansonsten hält sich der Lehrer zurück, er greift nur ein, wenn wichtige Wörter fehlen oder allzu offensichtliche Fehler passieren. Die Schüler üben so nicht nur Französisch: auch das Zuhören, die gegenseitige Hilfe bei der Vokabelsuche, Themenrecherche und das Argumentieren wird trainiert. Und nicht nur dort. In den interdisziplinären Fächern Kunst und Gesellschaft, Werteerziehung, Wissenschaft und Technik sowie Sport und Gesundheit sitzen die insgesamt rund 160 Siebtklässler, die das Neie Lycée im Anfangsjahr zählt, ebenfalls in Gruppen zusammen, um unterschiedliche Aspekte eines Themenprojektes zu erarbeiten. Dieses Trimester lautet das Thema Reisen. Erste Ergebnisse gibt es schon: An den Wänden im Flur hängen Länderporträts in krakeliger Kinderschrift. Die Rückwand in der Schulkantine ziert eine Holz-Eisenbahn aus unzähligen, mit selbst gebastelten Accessoires bestückten Waggons.       „Autonomie, Verantwortung und Respekt“ lautet das zentrale Bildungsziel, mit dem das von Unter-richtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) unterstützte NL angetreten ist (siehe d’Land vom 15. April 2005). Wie ehrgeizig und wenig selbstverständlich das ist, zeigen die Erfahrungen, welche Lehrer, Erzieher, Eltern und Schüler in den ersten Monaten gemacht haben. Jungen und Mädchen kamen zu spät, stolperten in falsche Kurse oder verpassten wichtige Informationen. Andere nutzten das Mehr an Freiheit für Dummheiten. Insbesondere außerhalb der regulären Unterrichtsstunden häuften sich die Klagen über Störenfriede: In den „Études“, ursprünglich gedacht für Hausaufgaben und um offen gebliebene Fragen mit anwesenden Erziehern oder Lehrern besprechen zu können, fiel einigen das Konzentrieren so schwer, dass sie Aufgaben mit nach Hause nahmen, um sie dort in Ruhe fertig zu stellen. Dabei war die Ganztagsschule mit dem Anspruch angetreten, alle Arbeiten innerhalb der Schulzeit, also zwischen acht und halb fünf beziehungsweise sechs Uhr abends, zu erledigen. „Ja, wir hatten Probleme mit der Disziplin“, gibt Jeannot Medinger, Direktor und Initiator der Pilotschule offen zu. Er sieht das Projekt durch die anfänglichen Turbulenzen aber nicht in Frage gestellt, sondern im Gegenteil sich in seiner Fundamentalkritik am herkömmlichen Schulsystem bestätigt. Viele Schüler hätten nie gelernt, selbstständig und eigenverantwortlich zu handeln. „Wir zwingen sie dazu.“ Anders als das französische Schulmagazin Le monde de l’éducation in seinem Dezember-Porträt über die Luxemburger Reformschule fälschlicherweise schreibt, sind Strafen dabei keineswegs tabu, jedenfalls nicht bei schweren und regelmäßigen Regelverstößen. Allerdings dürfe „nie blind sanktioniert werden“, so Medinger, der zudem auf die für Februar geplante Wertecharta für das NL verweist. Sie soll Regeln für das schulische Zusammenleben definieren. Dass die Charta nicht schon zu Beginn des Schuljahres vorgelegen hat, sondern von allen Schulpartnern gemeinsam erstellt wird, ist dabei laut Direktor beabsichtigte Folge einer konsequent zu Ende gedachten Logik der Eigenverantwortlichkeit und einer radikalen Absage an jegliche „Konsumattitüde“. Inzwischen, am Ende des ersten Trimesters, hat sich die Situation erheblich verbessert. An den Klassenzimmertüren hängen Schilder, die zur Ruhe mahnen, Laufen ist nur noch im unteren Stockwerk erlaubt. Die „Études“ werden besser beaufsichtigt und unruhige Schüler vom jeweiligen Tutor stärker an die Hand genommen. Denn jeder Schüler hat einen Tutor, der ihm hilft, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden und ihm bei Problemen als vorrangiger Ansprechpartner zur Seite steht. „Einige brauchen offensichtlich einen festeren Rahmen“, sagt Marjorie Graas, die sieben Schüler persönlich betreut, „den bekommen sie nun von uns.“ Die Französischlehrerin ist wie ihr Kollege Jean-Louis Weis Mitglied der zehnköpfigen „Groupe de préparation“, eine Art Steuerungsgruppe und Thinktank des NL. Sie wehrt sich gegen Vorurteile, ihre Schule sei eine „staatlich finanzierte Waldorfschule“ mit exotischen Fächern wie Zirkus und Gratis-Spaßfaktor. Es stimme zwar, dass die große Mehrheit der Kinder gerne in die neue Schule kommt. Das heißt aber nicht, dass sie weniger lernen als im herkömmlichen Unterricht, betont Graas. Mathelehrer Guy Wagner findet die Kritik, die insbesondere von Verfechtern des traditionellen Schulsystems wie der Beamtengewerkschaft CGFP und der ehemaligen Unterrichtsministerin Anne Brasseur (DP), geäußert wird, absurd: „Natürlich wollen wir, dass sich Schüler bei uns wohl fühlen, wir fordern schließlich Leistung. Wenn ich eine Arbeit nicht mag, dann bringe ich keine Leistung.“ Mit einem „Unterhaltungsfaktor“ der Schule habe das allerdings nichts zu tun. Den bekämpfe man entschieden. Chronische Drückeberger, die lieber passiv in der Schulbank sitzen, dürften es in der Tat im NL schwerer haben. Das Plus an Nähe zwischen Schüler und Lehrer hat nämlich ein erhöhtes Maß an Kontrolle zur Folge. Weil sich beide den ganzen Tag sehen, der Tutor zudem der Projektphilosophie entsprechend angehalten ist, die Entwicklung seines Schützlings genauestens zu beobachten, und sich im Rahmen wöchentlicher Teamsitzungen mit Kollegen über gemeinsame Schüler austauscht, bleibt wenig Raum zum Faulenzen oder Durchschummeln. Aktiv dabei sein, lautet die anspruchsvolle Devise. „Ich hätte gerne Zensuren“, antwortet Tun auf Nachfrage wie aus der Pistole geschossen. „Dann bräuchte ich mich nur auf ein Thema vorzubereiten und wüsste sofort, ob ich es kann.“ Entrüstet fällt ihm Mitschülerin Cassandre ins Wort: In der neuen Schule habe sie viel mehr gelernt und durch das viele eigene Recherchieren könne sie den Stoff besser behalten. Die meisten Kameraden in der Runde nicken zustim-mend. Ganz allein ist Tun mit seiner Skepsis aber nicht. David findet die neue Lernform ebenfalls „etwas anstrengend“. Die meisten Eltern hingegen äußern sich hellauf begeistert über die neue Schulform. Der interdisziplinäre Ansatz und der offene und kooperative Umgang stoßen auf besonders viel Lob. Die Direktion reagiere schnell und transparent, freut sich Stephan Kinsch über die „neue Kultur echter Partnerschaft“. Unsichere Stimmen hat der Sprecher des Elternkomitees allerdings auch schon vernommen. Vor allem zwei Fragen treiben manche um: Lernt mein Kind in der neuen Schule genug, um nach vier Jahren den Anschluss an das traditionelle Schulsystem zu schaffen? Und wie lässt sich der Lernfortschritt feststellen, wenn keine Noten existieren? Die Antwort hierauf steht eigentlich im NL-Konzeptpapier. Portfolio und Schüler-Logbuch sowie regelmäßige Rückmeldungen durch die Tutoren sollen Eltern helfen, sich ein realistisches Bild über die Fähigkeiten ihrer Kinder zu verschaffen. Kleinere Arbeiten, die ein Schüler in einem Fach erstellt hat, dürfen und sollen mit nach Hause gebracht werden. Weil aber in der Anfangsphase organisatorische Probleme statt inhaltlicher und methodischer Fragen im Vordergrund standen, ist das bisher kaum geschehen. Ein „Bulletin intermédiaire“ kurz vor Allerheiligen gab Auskunft über Unterrichtsinhalte und eine grobe Einschätzung darüber, wie sich das eigene Kind in der neuen Umgebung eingelebt hat. Für Laura Zuccoli, die wie viele andere Eltern ihren Sohn bewusst ins Neie Lycée gegeben hat, ist das noch kein Problem, finden doch an diesem Freitag ausführliche Elterngespräche statt. Dort werden erstmalig Textzensuren verteilt. Sie orientieren sich an den im Gesetz formulierten „Socles de compétences“ und den „Lignes directrices des programmes“. Wer sie genau liest, wird feststellen, dass die Unterrichtsinhalte in den disziplinären Fächern, Deutsch, Französisch, Englisch und Mathematik, sich nicht wesentlich von denen anderer Schulen unterscheiden. „Wir erfinden nicht alles neu“, sagt Marjorie Graas. Schließlich müssen auch Reformschulkinder, um eine Sprache zu erlernen, eine gewisse Menge an Vokabeln und Grammatikregeln üben. Der Unterschied zum herkömmlichen Unterricht liege eher in der Reihenfolge und in der freieren Wahl der Methoden. Weil ausdrücklich keine Schulbücher und keine Noten vorgesehen sind, stehen Lehrer und Schüler nicht unter dem Druck, binnen einer gewissen Frist ein bestimmtes Kapitel durchzupauken. Dass nun einige den Verlust eben dieses engen Rahmens bedauern und Eltern sich verunsichert fragen, ob ihr Kind auch wirklich genügend Grammatik lernt, zeigt vor allem eins: wie sehr die Leistungsvorgaben und Erwartungen der traditionellen Schule das eigene Denken und Handeln bestimmen und wie lang der Weg zum freien Unterricht ist. Eine andere Schule und ein anderes Lernen kann nur gelingen, wenn damit ein fundamentaler Wandel der gegenwärtigen Schulkultur verbunden ist, hat der Genfer Bildungsforscher und NL-Projektbegleiter André Giordan im Interview mit Le Monde de l’éducation festgestellt. Der komme aber nicht von heute auf morgen.  Die Umstellung braucht Geduld und Zeit, und dass sie nicht ohne Anstrengungen aller Schulpartner zu haben ist, diese Erfahrung haben die Modellschulen im Ausland ebenfalls gemacht. Die Schüler der Bodensee Schule in Friedrichshafen, deren Bilder auf dem Fernsehbildschirm im Neie Lycée flimmern, wussten zu Beginn auch nicht, wie man selbstverantwortlich lernt. Das haben sie erst allmählich gelernt. „Wenn Schüler bereits Autonomie, Verantwortung und Respekt hätten, wozu bräuchten sie uns dann?“, fragt Jeannot Medinger. Wie gut ihre Leistungen schlussendlich sind, ob sie sich mit denen herkömmlicher Schulen messen können, wird hoffentlich die Evaluation durch die Universität Luxemburg zeigen. Spätestens dann dürfte sich auch zeigen, ob der bewusste Rückgriff auf zum Teil didaktisch ungeschultes Lehrpersonal für Werkstätten und interdisziplinäre Kurse wegweisend ist oder nicht. Die Aussicht, dass jeder Schüler am Ende der Schulzeit durch eine externe Jury geprüft wird, bekümmert den Direktor jedenfalls nicht. Ebenso wenig fürchtet er, angesichts so mancher aktueller Anfeindungen durchaus vorstellbar, eines Tages doch noch Opfer eines - politisch motivierten - negativen Votums zu werden. Medinger stützt sich lieber auf ausländische Erfahrungen: Die Reformschulen, an denen sich das Neie Lycée unter anderen orientiert, haben den Anschluss an das klassische System alle gemeistert. Unter ihnen befindet sich auch Deutschlands beste Pisaschule.  

*Den Videofilm Treibhäuser der Zukunft hat der deutsche Journalist Reinhard Kahl gedreht.

Ines Kurschat
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