Auch in staatlichen Kinderheimen gab es Machtmissbrauch und Gewalt. Ein Gesetzentwurf, der die öffentliche Heimerziehung verbessern soll, schweigt darüber

Chance verpasst

d'Lëtzebuerger Land vom 10.11.2017

„Für jedes Kind, das aus seiner Familie genommen wird, ist dies traumatisch“, betont Carine Kelsen. Sie ist Leiterin der staatlichen Kinderheime, die neben Wohngruppen und klassischer Heimunterbringung den Service Treffpunkt anbieten, der es Kindern ermöglicht, unter Aufsicht ihre Eltern zu treffen. „Die Kinder, die zu uns kommen, haben oft keinerlei Vertrauen mehr in erwachsene Bezugspersonen.“ Viele haben Schlimmes erlebt, wie Vernachlässigung, Gewalt oder Missbrauch.

Um diese Kinder in ihrem Heilprozess zu unterstützen, setzen Kelsen und ihr Team seit 2014 auf die Traumapädagogik. Bei dem Ansatz, der in Deutschland aus der heilpädagogischen und therapeutischen Behandlung sexuell missbrauchter Kindern entstand, stehen Prinzipien wie der behutsame und respektvolle Umgang mit traumatisierten Kindern in sicherer Umgebung im Mittelpunkt. Es geht darum, Retraumatisierungen zu vermeiden und Betroffene zu befähigen, neues Vertrauen aufzubauen. Das setzt hohes fachliches Knowhow beim Personal, sowie Fähigkeit zur Selbstkritik voraus. Alle Mitarbeiter/innen, die im Heimbereich beschäftigt sind, haben eine traumapädagogische Zusatzausbildung. Zudem wurde der Personalschlüssel zuletzt deutlich verbessert, um betroffene Kinder so individuell wie möglich betreuen zu können.

Der Gesetzentwurf, der diesen Mittwoch im zuständigen Parlamentsausschuss für Erziehung vorgestellt wurde, soll diesen Ansatz absichern und bestehende staatliche Jugendhilfsangebote in einem Institut public d’aide à l’enfance et à la jeunesse zusammenführen. „Es geht darum, eine legale Basis zu schaffen und bestehende Strukturen zu festigen“, sagt Manuel Achten, Leiter der Abteilung Frühe Kindheit und Jugend im Erziehungsministerium, dem Land. Zudem soll das Gesetz dem Staat ermöglichen, innovative Erziehungsprojekte finanzieren zu können. Der traumapädagogische Ansatz zählt dazu: Erste Erfahrungen seien positiv, heißt es; eine wissenschaftliche Evaluation gibt es allerdings noch nicht.

Mit dem Entwurf werden Prinzipien aus der öffentlichen Kinderbetreuung auf die Heimerziehung übertragen. Das gilt beispielsweise für die Qualitätssicherung oder die verpflichtende Weiterbildung von 40 Stunden binnen zwei Jahren. Eigentlich überfällig. Neben Heimerziehung, Prävention und Therapie soll das Institut eine Ressourcenabteilung mit Aus- und Weiterbildungsangeboten aufbauen. Dafür arbeite man mit dem Weiterbildungsinstitut für Lehrer und Erzieher (Ifen) in Walferdingen zusammen, so Kelsen.

Der Entwurf wirft jedoch Fragen auf. So werden die staatlichen Kinderheime, obwohl ein Instrument der Kinder- und Jugendhilfe, nicht über Fallpauschalen finanziert, sondern über ein Budget, das die Häuser selbst verwalten. Liegen ihren Ausgaben darüber, springt der Staat ein. Die umstrittene Fallkostenfinanzierung hatte die CSV-LSAP-Regierung 2008 mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz eingeführt; die staatlichen Kinderheime blieben außen vor. Dass sie dies in Zukunft weiterhin bleiben, begründet Manuel Achten damit, so „größeren Spielraum“ bei der staatlichen Steuerung von Jugendhilfemaßnahmen zu haben. Der staatliche Heimsektor, insbesondere die Erziehungsheime für Schwer-Erziehbare in Dreiborn und Schrassig, litt lange Zeit an Personalmangel und chronischer Unterfinanzierung, sieht man von der Millioneninvestition der geschlossenen Abteilung Unisec ab. Sie hat diese Woche nach drei Jahren Leerstand ihren Betrieb aufgenommen.

Dass ein längerer Heimunterhalt nicht wie ambulante Therapiestunden über Fallpauschalen abgerechnet werden, mag einleuchten, und doch wird in dem Entwurf nicht geklärt, welche Rolle der Staat in der Jugendhilfe in Zukunft spielt und welche Stellenwert die Heimerziehung im Gesamtgefüge künftig haben soll. Es ist fachlich anerkannt, dass es für die Entwicklung und Bindungsfähigkeit oft eher kontraproduktiv ist, Kinder für längere Zeit von ihren Eltern zu trennen. In Luxemburg ist die Zahl der gerichtlich angeordneten Zwangseinweisungen im Vergleich zu anderen westlichen EU-Ländern erschreckend hoch. Rund 80 Prozent der Einweisungen in staatlich geführte Heime sind vom Gericht angeordnet. Selbst Säuglinge und Kleinkinder landen hierzulande nicht selten im Heim. Theoretisch erlaubt der Entwurf auch staatlichen Heimen, Babys aufzunehmen, obwohl dies aus kinderrechtlicher und entwicklungspsychologischer Perspektive höchst bedenklich ist. Das war eine der ersten Fragen, die die CSV-Abgeordnete Françoise Hetto-Gaasch bei der Vorstellung des Projekts im Parlamentsausschuss stellte. Offenbar ist ein staatliches Heimangebot für Säuglinge derzeit nicht geplant, möglich wäre es.

Der Text ist an vielen Stellen recht vage formuliert. So wird von mehreren Leitungen für die fünf Institutsabteilungen gesprochen, ohne konkret zu benennen, wie viele Führungsposten gebraucht werden. „Wir haben den Text so formuliert, um gegebenenfalls ausbauen zu können“, sagt Regierungsberater Achten. Aber wie passt das mit dem erklärten Anliegen der Regierung zusammen, die Heimunterbringung reduzieren und stärker auf ambulante Erziehungshilfen setzen zu wollen, bei denen Kinder in den Familien bleiben?

Und wie vernetzt ist dieses Angebot mit den diversen Institutionen und Akteuren, wie Schulen, Schulpsychologen, Kinderpsychiatrie? In den vergangenen Jahren wurde die ambulante Versorgung massiv ausgebaut, gleichwohl kommt es häufig vor, dass Kinder lange im Hilfesystem „drehen“, ohne dass sie adäquate Unterstützung bekommen. Insbesondere die Früherkennung und die interdisziplinäre Zusammenarbeit sind verbesserungswürdig. Eine Studie von Gesundheitsdirektion und CRP Santé aus dem Jahr 2010, für die Schulpsychologen, Jugendhelfer, Kinderpsychiaterinnen und -ärzte, Sucht- und Bewährungshelferinnen und weiteres Fachpersonal befragt wurde, empfahl unter anderem ein verbessertes Screening gefährdeter Kinder nach einheitlichen anerkannten Standards, mehr Evaluation, mehr Absprachen und mehr Austausch über Fachgrenzen hinaus. Der Entwurf sieht eine „Annäherung existierender Strukturen“ vor „an die Schulen in allen ihren Facetten“. Aber wie diese vonstatten gehen soll, wer diese steuert, bleibt unklar. Die breite interdisziplinäre Plattform von damals existiert offenbar nicht mehr.

Vielmehr war mit René Schmit einer der Schwergewichte in der Arbeitsgruppe, die den Entwurf im Erziehungsministerium erarbeitet hat, ein kürzlich pensionierter Direktor der staatlichen Kinderheime, der dem Erziehungsministerium dann als Berater zur Seite stand. D’Land konnte ihn zum Entwurf nicht befragen, da er derzeit im Ausland ist. Schmit gilt als einer der erfahrensten Experten in der Jugendhilfe, trotzdem mutet es seltsam an, dass ehemalige Direktoren an Gesetzen für Institutionen mitschreiben, die sie selbst maßgeblich geprägt haben. Während es in der Finanzbranche inzwischen anrüchig ist (wenn es rauskommt), scheint es für solche Interessenkonflikte im Sozialsektor kein Problembewusstsein zu geben. Achten lobt die so gewonnene „Expertise“, dass sich die Frage stellt, wie es dann um die Expertise im Ministerium bestellt ist: Ohne fachlich untermauerte Gesamtvision lässt sich eine wirksame Kinder- und Jugendhilfe nicht kohärent planen und steuern. Achten verweist auf einen Rahmenplan, der, ähnlich wie in der Kinderbetreuung übergeordnete Ziele und Aufgaben der Jugendhilfe festlegen soll. Er muss erst noch erarbeitet werden.

Das Jugendhilfegesetz hat, das zeigt eine erste Zwischenbilanz, zu mehr Professionalisierung geführt, aber auch die großen Träger, Caritas, Arcus, Elisabeth und Rotes Kreuz, gestärkt. Die werden nicht umsonst analog zur Finanzbranche the „Big Four“ genannt. Dass der Staat da ein Gegengewicht aufbaut, ist nachvollziehbar. Gleichwohl bleibt unklar, worin das Subsidiaritätsprinzip besteht, wenn der Staat mit dem neuen Institut Aufgabenfelder übernimmt, die von Prävention über Therapie bis zur Weiterbildung reichen.

Dass der Staat kein Garant ist für hochwertige Erziehungsmethoden im Sinne notleidender Jugendlicher und ihren Familien, zeigt ein Blick in die Geschichte: Der Motivenbericht zählt historische Stationen der öffentlichen Heimerziehung auf, in der bis in die 1970-er „disziplinarische Kriterien“ handlungsanleitend gewesen waren, „vergisst“ dabei jedoch zu erwähnen, dass diese auch in Machtmissbrauch und Gewalt ausuferten. In Zeiten, in denen ehemalige Heimkinder das Schweigen brechen und immer noch auf Anerkennung für erlittenes Unrecht warten, sind solche Blindflecke ein unglaubliches politisches Versäumnis. Während in anderen Ländern unabhängige (!) Forscher Missbrauch und Übergriffe in staatlichen und konfessionellen Einrichtungen offengelegt haben, kam Luxemburg nie über eine von der katholischen Kirche selbst gesteuerte Hotline hinaus. Mit deren Schlussbericht wurde auch die Aufarbeitung geschehenen Unrechts in der öffentlichen Heimerziehung ad acta gelegt.

Zwar haben die staatlichen Kinderheime unter Leitung von René Schmit versucht, die dunklen Kapitel etwas zu beleuchten, es wurden Augenzeugen befragt, Qualitätsstandards diskutiert. Aber für alle verbindliche Verfahren, um solchem und anderem Machtmissbrauch vorzubeugen, existieren in der Heimerziehung bis heute nicht. Und das, obwohl sich Luxemburg seines Jugendschutzgesetzes rühmt. So berichtete eine Mutter dem Land von einem Betreuer, der in einer Wohngruppe die professionelle Distanz verloren und eine sexuelle Beziehung mit ihrer Tochter begonnen haben soll, ohne dass er dafür belangt wurde.

In den staatlichen Heimen erhalten die jungen Bewohner neuerdings durch Kinder- und Jugendräte Mitspracherecht. Doch eigene Vertrauenspersonen, denen sie Übergriffe oder Fehlverhalten melden können, fehlen – und über eine unabhängige Evaluation schweigt sich der Entwurf aus. Dabei müsste eine der Lehren aus den skandalösen Zuständen in Dreiborn, Rhum und Ko. sein: dass Heime Gelegenheit für Missbrauch bieten, weil sie, abgeschottet von der Öffentlichkeit, tief in die Freiheiten der ihnen anvertrauten Kinder eingreifen – und deshalb systematische Sicherheiten sowie regelmäßige, gesetzlich verbriefte externe Kontrollen unerlässlich sind. Nicht umsonst stehen in den Standards für traumapädagogische Konzepte in der stationären Kinder- und Jugendhilfe der Bundesarbeitsgemeinschaft Traumapädagogik „klare Verfahren im Umgang mit Grenzverletzungen“ sowie eine „offene Auseinandersetzung über Macht-, Hierarchie- und Entscheidungsstrukturen innerhalb der Institution“ – und sagt Carine Kelsen selbst: „Traumapädagogische Einrichtungen müssen sich an ihren Grundsätzen messen und entsprechend transparent geführt sein.“

Ines Kurschat
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