Die kleine Zeitzeugin

Mein Bioblumenbalkon

d'Lëtzebuerger Land du 07.06.2019

Dieses Jahr ist auf meinem Balkon kaum was los. Wegen Bio. Wegen Facebook. Weil die Blumen, also die käuflichen, Killerinnen sind. Sie sind schuld – am großen Sterben der ganz Kleinen. Derer mit Beißzangen und Saugrüsseln, die plötzlich so populär geworden sind. Jede will ja jetzt nicht nur eine Robbe retten, sondern mindestens eine graue Laus oder ein sonstiges Mini- Mitgeschöpf, das plötzlich die Welt bedeutet. Und wenn es stirbt! Wenn es ausstirbt gar! Nicht auszudenken, ohne dieses unansehnliche Wesen, das gerade damit beschäftigt ist, mir mein Blut auszusaugen und den letzten Nerv zu rauben, geht anscheinend nichts mehr, alles bricht zusammen beziehungsweise auseinander.

Weil eben alles zusammenhängt, und in dem Ganzen hängen wir und davon ab auch noch. Puh! (Nur, das muss ich, kleines Grübelintermezzo, der Fairness, der biologischen Fairness wegen anmerken, der Masernvirus ist vom Aussterbeverbot ausgenommen, Virenrechte sind eben noch immer keine Tierrechte und schon gar keine Menschenrechte.)

Zurück zu den Blümchen, die doch eher eine Lobby haben. Wenn also alles in die Binsen geht, den Bach runter, wenn keine Bäche mehr fließen und die Meere uns über den Kopf steigen, das wäre dann wegen der Blumen. Auch wegen der Blumen. Wie bitte, wegen der Unschuld vom Lande? Wegen dem zuverlässigen Baumarkt-Gewächs? Kübelweise wird es ins Auto gepackt, um den Todeszonen der Cités doch noch ein Häuchlein von Leben zu verleihen! Wegen der Holden inmitten von Hässlichkeit, der Fee der Verkehrsinsel, die dem Himmel aus Beton ihre Schmetterlingsflügel öffnet? Die so betörend ist, all die Glockenblumenglöckchen, dass Poetinnen riskieren, im blumigsten Kitsch unterzugehen.

Und dann wird so was über sie geschrieben. Ich lese es auf Facebook. Eine FB-Freundin, die es wissen muss, lebt bio, echt bio, konsequent bio mit allem, was dazu gehört, also ohne das meiste, sie schreibt es. Dass die Blümchen, die wir ruckizucki am Schopf packen, um sie schnell mal wo einzubuddeln – bitte blüh jetzt schön, sei jetzt schön schön, ab und zu gibt es ein Schlückchen Wasser und deine Droge kriegst du auch, psst, wir nennen sie Dünger – ganz schlecht sind für alles was da summt und brummt. Vor allem natürlich für die beliebten, anspruchslosen Arbeitskräfte, unsere Bienlein. Tödlich gar. Nicht dass die Bienen gleich mausetot umfallen, das nicht, aber langfristig dann doch. Wegen der Neonikotinoide, wie es seriös heißt, es ist also keine übertriebene grüne Panikattacke oder eine Verstörungstheorie.

Du tüchtige Geranie, du betuliche Nelke, du filziges Teppich-Hornkraut, du Lungenkraut und Leberblümchen, du Tränendes Herz, du Kriechender Günsel, du Riesenrunzel, du Zwerg-Geißblatt, du rosenrote Rose, ihr alle, die ihr euch einst auf meinem Balkon herumgetrieben habt und allerhand getrieben habt, ihr sollt Legionen von winzigen Wesen ins Jenseits befördert haben! Und ich dann, ähm schluck, auch, dabei wollte ich doch nur die Welt verbessern. Oder die Umwelt, wie man das heute nennt. Was jetzt also?

Ja, jetzt ist mein Balkon ziemlich ohne. Denn könnte ich es jetzt noch übers Herz bringen, Bienlein zu observieren, wie es in tödlicher Wollust in einem Kelch versinkt? Oder dem Ameisentrupp, der zwischen Wurzelwerk stumpfsinnig motiviert antike Generationenverträge einhält? Und ungedopte Blumen gibt es ja kaum, stelle ich erstaunt fest, befragte Gärtner_innen benehmen sich wie Ärzt_innen, denen man die Frage von Leben und Tod stellt, sie umgehen sie. Sie zeigen auf ein Päckchen mit Samen.

Okay, dann säe ich mal. Und warte. Auf das Leben. Auf Bio.

Und während ich warte, bedanke ich mich bei den Getreuen, die den Winter überlebt haben und es einfach noch mal tun. Bei denen, die einfach so da sind, Brennnesseln, Löwenzähne. Migrant_innen, die einzogen oder einflogen, manche sind vom Himmel gefallen, wie das wundersam entsprossene Fliederbäumchen.

Und unter der Schafgarbe träumen Engerlinge, Maikäferembryos. Sie träumen sechs Jahre, dann fressen sie, so geht die Legende, Wälder ratzekahl. Auch sehr bio.

Michèle Thoma
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