Interview mit der DP-Bildungspolitikerin Anne Brasseur

„Bewährtes nicht umwerfen“

d'Lëtzebuerger Land vom 08.11.2007

Sie war Bildungsministerin – und hat noch immer Ambitionen auf den Posten: Anne Brasseur, 57, DP-Abgeordete. Bekannt wurde die liberale Bildungsexpertin durch ihren Slogan Back to basics. Er zieht sich wie ein Leitfaden durch ihre gesamte bildungspolitische Arbeit. D’Land sprach mit ihr über den Werteunterricht, die Situation des Luxemburger Bildungssystems kurz vor dem Erscheinen der dritten Pisa-Studie, über die Arbeit ihrer Nachfolgerin und darüber wie viel Reformen Luxemburgs Schulen brauchen.

d’Land: Frau Brasseur, die LSAP hat Ihnen vorgeworfen, beim Werteunterricht nicht Klartext zu reden. Im DP-Wahlprogrammvon 2004 steht nichts dazu.Anne Brasseur: Die Position der DP ist, dass man in der öffentlichenSchule einen allgemein verbindlichen Werteunterricht braucht. Das wird umso wichtiger in einem multikulturellen und -religiösen Umfeld. Es geht darum, die Vielfalt nicht als Trennung zu begreifen, sondern die Menschen zu verbinden. Das spricht für einen Werteunterricht für alle. 

Gehört Religion überhaupt in die Schule? Der Europarat, in dem auch Luxemburg vertreten ist, spricht sich für eine klare Trennung aus. Die Frage muss man nuanciert betrachten. Sicherlich zählen Kenntnisse des Alten und Neuen Testaments zur Allgemeinbildung, dafür braucht es aber nicht unbedingt einen Religionsunterricht. Einen Werteunterricht einzuführen, würde allerdings weitere Fragen aufwerfen. Deshalb habe ich eine Debatte in der Parlamentskommission angefragt. Mich hat die Herangehensweise der LSAP erstaunt. Alex Bodry hat meine Resolution mit unterschrieben, aber später dazu beigetragen, dass sie aus formalen Gründen abgelehnt wurde.

Zwischen Ihnen und der LSAP scheint die Stimmung schon länger im Keller. Wenn manSie über Bildung reden hört, bekommt man auch Jahre nach den Wahlen den Eindruck, Sie könnten mit der LSAP-Bildungsministerin überhaupt nicht.Anders als ein Journalist dies einmal behauptete, ist Frau Delvaux-Stehres mit Sicherheit keine Erzfeindin von mir. Ich habe Achtung vor ihrer Arbeit und viel persönliche Sympathie. Unsere Differenzen sind inhaltlicher Natur.

Wie meinen Sie das? Die LSAP hat immerhin Punkte umgesetzt, die Ihre Partei im letzten Koalitionsprogramm lediglich festgehalten hat: die Reform des 1912-er-Gesetzes beispielsweise.Frau Delvaux-Stehres hat zumAmtsantritt die Nachricht verbreitet,Schule müsse Spaß machen und dieses mit einer Aufweichung derPromotionskriterien verbunden. Das war das falsche Signal.

Warum? Schließen sich Lernen und Spaß für Sie aus?Nein. Schule soll selbstverständlich auch Spaß machen. Aber gute Resultate kommen nicht von selbst, das bringt der beste Lehrer nichtfertig. Dazu gehören auch Fleiß und Disziplin. 

Das klingt konservativ.Ich sehe mich nicht als konservativ. Leistungsbereitschaft gehört nun mal zur Schule. Das hat übrigens auch die amtierende Ministerin bei ihrer diesjährigen Pressekonferenz zumSchulanfang zugegeben. Gerade die schwachen Schüler können es sich nicht leisten, nicht zu lernen. Darum war auch die Hausaufgaben-Debatte ein Schritt in die falsche Richtung.

Mady Delvaux-Stehres hat die Reduzierung der Hausaufgaben zu Beginn der Primärschule damit begründet, dass nicht alle Kinder daheim die gleichen Voraussetzungen haben. Das sagen auch Bildungswissenschaftler.Zum Lernprozess gehört Wiederholen und Vertiefen. Dazu sind dieHausaufgaben da. Früher hat es Zilenz-Stunden in der Schule gegeben, insofern ist die Bezeichnung konservativ relativ. Das Pendel scheint wieder in die andere Richtung auszuschlagen. Wenn von der Schule keine Hausaufgaben gefordert werden, werden Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern ins Hintertreffen geraten, weil ihre Mitschüler aus bildungsnahen Familien daheim noch zum Lernen angehalten werden.

Über die geplante Laborschule Eis Schoul lästerten Sie, deren jahrgangsstufenübergreifende Organisation würde „an diealte Dorfschule“ erinnern. Dabei greift die Schule nur eine Ihrer Forderungen auf: Schüler so individuell wie möglich zu betreuenund Entwicklungsunterschiede zu berücksichtigen.Mit meiner Bemerkung zur Dorfschule wollte ich nur sagen, dass das Konzept altersgemischter Klassen in ähnlicher Form schon einmal da war. Es stimmt, dass in den Primärschulklassen Kinder mit unterschiedlichen Reifegraden sitzen. In meiner Amtszeit hat in Differdingen eines der ersten Pilotprojekte in Teamteaching gestartet, bei denen der erste und zweite Jahrgang zusammengelegt wurden. Der Gesetzentwurf zum Primärschulgesetz sieht aber vor, die Zyklen bei den folgenden Jahren anzuwenden. Das könnte zumProblem werden: wenn Kinder über einen längeren Zeitraum Defizite akkumulieren.

Nichts verhindert, dass Lehrer weiterhin eine kontinuierliche Diagnose machen.Ich befürchte, dass mit den Zyklen der individuelle Check-up am Schuljahresende verloren geht, zumal ja auch nicht alle Schulen mit der klassischen Benotung fahren.

Da spricht eine Verfechterin des 60-Punkte-Systems.Ja. Und wenn man die Aussagen der jetzigen Ministerin hört, hat esselbst bei ihr eine Entwicklung gegeben. Sie sagt inzwischen auch,man müsse das Punktesystem beibehalten. Noten haben in Luxemburg Tradition, die Methode hat sich bewährt.

Wieso bewährt? Bildungswissenschaftler haben nachgewiesen: Noten sind nicht objektiv, sondern hängen vom Urteil des Lehrers ab, bei dem persönliche Sympathien und das Sozialverhalten der Schüler eine erhebliche Rolle spielen. Zudem warnen sie vor mit Noten verbundenem Leistungs- und Selektionsdruck. 

Der Vergleich mit anderen ist enorm wichtig, denn nur so hat derSchüler einen Anhaltspunkt, wo er mit seinen Leistungen steht. Ein gewisser Druck muss sein. Im Übrigen ist Bildungspolitik nicht nur eine Sache von Bildungswissenschaftlern, sondern von all denen, die damit zu tun haben, also Eltern, die Schüler, die Lehrer, die Arbeitswelt und die Politik. 

Während Ihrer Amtszeit startete zudem das Lycée Aline Mayrisch als eine der ersten Schulen im Land mit reformpädagogischem Ansatz. Mit dem Neie Lycée, dem Schengen-Lyzeum, der Escher Ganztagsschule und jetzt Eis Schoul differenziert sich Luxemburgs Schullandschaft weiter aus. Ein Fluch oder ein Segen??Der Gesetzgeber muss einen Rahmen setzen, in dem die Entwicklung stattfinden kann. Das habe ich mit dem Gesetz zur Organisation der Lyzeen getan, das eine gewisse Autonomie für die Schulen vorsieht. Deren Fortschritt kann man aber nicht diktieren, sondern nur die Mittel dafür bereitstellen. Es gibt zwangsläufig unterschiedliche Geschwindigkeiten. Wichtig ist, dass das regionale Gleichgewicht stimmt, denn nicht alle Kinder brauchen dasselbe Angebot. 

Ein Plädoyer für eine Ganztagsschule pro Region??Ich bin nach wie vor kein Freund der Ganztagsschule. Richtig ist,dass wir auch Angebote zur Betreuung nach dem Schulunterricht inden Lyzeen brauchen. Im Primärschulbereich geschieht es durch dieMaisons relais. Die müssten nur noch enger mit den Schulen verzahnt werden. Im Postprimär müsste gezielter geholfen werden. Schulen müssen die Möglichkeit haben, im Rahmen ihrer Stundenverteilung etwas anzubieten. 

Die Autonomie reicht aber hinten und vorn nicht, klagen Direktoren.Das mag sein. Ich bin ein pragmatischerMensch, mir war wichtig, überhaupt einen Schritt in die Richtung zu machen. Jetzt muss man die Erfahrungen auswerten und gegebenenfalls nachbessern. Über die Aus- beziehungsweise Weiterbildung der Schulleiter lohnt es sich nachzudenken. 

Das hätten Sie während Ihrer Amtszeit als Bildungsministerin tun können.Es war vielleicht ein Versäumnis, keine Weiterbildung für Direktoren in den Texten vorgesehen zu haben, aber die meisten haben freiwillig Weiterbildungskurse besucht. Früher lief alles auf der Basis von Vertrauen, aber wir bekommen immer mehr Schulen, und die Anforderungen haben sich auch geändert.

Pisa hat gezeigt, dass unser Schulsystem Kinder aus sozial benachteiligten Elternhäusern systematisch schlechter stellt. Dadrängt sich die Frage auf, ob die bisherigen Reformen ausreichen oder ob sie nicht vielmehr nicht weit genug gehen.Das Ganze steht und fällt mit dem Unterricht. Ein guter Lehrer bringtden Kindern etwas bei, auch wenn die Strukturen und Programmenicht ideal sind. Die Schule sollte grundsätzlich alle Kinder ins Bootbekommen. Diejenigen, die große Lernschwierigkeiten haben, mussman dann à part unterrichten. 

Lehrer kritisieren seit Jahren übervolle Programme. Der Meinung bin ich auch noch immer, aber die Lehrer gestalten dieProgramme selbst. Wir verlangen auch zu viel von der Schule. EineSchule kann nicht alles: erstensWissensvermittlung – und ich bleibedabei, dass das ihre Hauptaufgabe ist – und zudem alles das reparieren, was in unserer Gesellschaft schief läuft. Das geht auf Kosten des Grundwissens. 

Das klingt nach Back to basics. Für den Slogan haben Sie damals viel Häme und Kritik einstecken müssen, weil er so simplistisch ist.Jeder Slogan ist eine Reduktion. In der Schule ballt sich immer mehr:Natur entdecken, Gewalt- und Aidsprävention, gesunde Ernährung,usw. Wir müssen uns auf die Hauptaufgaben der Schule besinnen,und das ist zunächst einmal Lesen, Schreiben und Rechnen zuvermitteln. Wegen unserer Sprachsituation ist es besonders wichtig,dass das Grundwissen sitzt. 

Die Pisa-Studie sagt etwas anderes. Demnach fehlt es den Schülern weniger an Wissen, sondern es hapert bei der Anwendung.Es wäre nicht das erste Mal, dass Sie und ich anderer Auffassung sind.

Aber das Luxemburgs Schulen insgesamt zu schlecht ausbilden und es ein Problem mit Schulabbrechern und Sitzenbleibern gibt, ist ein Fakt.Der échec scolaire bleibt unsere Hauptsorge. Da brauchen wir noch mehr Förderung. Schule ist dabei ein Hebel, das bestreite ich ja gar nicht. Aber auch die Eltern sind in der Verantwortung. Lehrer können nicht neben dem Unterricht auch noch zu Hause nach dem Rechten sehen. Das müssen Sozialarbeiter machen. Ich habe damals für den Médiateur interculturel plädiert, als Bindeglied zwischen Schule und nicht-luxemburgischem Elternhaus. Das sollte auf alle Familien ausgedehnt werden.

Hauptursache des schulischen Misserfolgs ist dieMehrsprachigkeit. Sie wollten damals die Alphabetisierung auf Französisch für Kinder mit romanischen Sprachhintergrund einführen. Daraus wurde aber nichts.An der Idee halte ich fest. Der Zugang zur Mehrsprachigkeit wird vielleicht vereinfacht, wenn man die Alphabetisierung in einer Sprache machen kann, die näher an derMuttersprache ist. Ich wollte ein fakultatives Angebot schaffen, ohne die Kinder zu ghettoisieren. Leider konnte ich damals keine Gemeinde finden, die das Projekt unterstützen wollte. In punkto Sprachen bin ich auch für eine Unterscheidung zwischen classique und technique. Im classique muss man Sprachen schriftlich und mündlich beherrschen, die Ausrichtung des technique ist aber eher praxisorientiert. Wo ist der Sinn, wenn angehende Krankenschwestern in Luxemburg wegen der hohen Anforderungen im Französischen durch die Prüfung rasseln – und wir zugleich Krankenschwestern aus Trier importieren?

Die Probleme des Bildungswesens sind laut Experten strukturell und betreffen nicht nur lernschwache Schüler. Luxemburgs Schulen bilden auch zu wenige Abiturienten aus.Die Schüler, die mit unserem Schulsystem keine Schwierigkeiten haben, haben auch an der Uni selten Probleme. Es fehlen zwar genaue Zahlen, aber die Misserfolgsquote bei den Studenten scheint niedriger zu sein als bei ihren Kommilitonen im Ausland. In Frankreich schaffen viel mehr Schüler das Abitur, studieren zwei Jahre, um dann später in schlecht bezahlten Jobs zu landen. Das ist doch keine Perspektive.

Das Problem ist doch, dass deutsche und französische Hochschulabsolventen auf den Arbeitsmarkt drängen und dort geringer qualifizierten, luxemburgischen Arbeitsuchenden Konkurrenz machen.Sicherlich gibt es Druck aus der Grenzregion.Mein Ansatz ist aber ein anderer: Das System muss in der Berufsausbildung durchlässiger werden. Bei uns sind handwerkliche Tätigkeiten schlecht angesehen, wir haben eine sélection par l’échec. Dabei wäre es besser, gute Handwerker auszubilden – und ihnen nach dem CATP die Möglichkeit zu geben, weiterführende Fachstudien zu machen.

Die Durchlässigkeit zu erhöhen, reicht nicht, meinen Déi Gréng. Sie fordern strukturelle Reformen und stellen das mehrgliedrige System insgesamt in Frage. Das ist mit Ihnen nicht zu machen.Nein. Das mehrgliedrige System hat sich aus der Praxis so ergeben, wir haben ja schon Schwierigkeiten, die Kinder dort zu integrieren. Man soll zudem Bewährtes nicht ständig umwerfen. Nun muss man erst einmal konsolidieren.

Das klingt nach einem Wunsch für ein Comeback als Bildungsministerin.Man soll nie nie sagen.

 

Ines Kurschat
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