Die Chance auf eine zeitgemäße Reform des Jugendschutzes, die Schluss macht mit dubiosen Praktiken, wird vertan

Deviantes System

d'Lëtzebuerger Land du 18.11.2016

Es war eine klare Ansage. „Wir wären froh, wenn Minderjährige nicht mehr nach Schrassig kommen würden“, sagte Michel Lucius vor einer Woche dem Radio 100,7. Der neue Direktor der Strafvollzugsanstalt Schrassig prangerte einen Zustand an, der zum Dauerskandal geworden ist: dass Minderjährige im Erwachsenengefängnis eingesperrt werden. Man sei nicht dafür ausgerüstet, um mit Minderjährigen zu arbeiten, so Lucius weiter. Damit reiht sich ein weiterer wichtiger Akteur in die lange Reihe der Kritiker einer Praxis ein, für die Luxemburg seit Jahren von nationalen und internationalen Menschen- und Kinderrechtlern gerügt wird. Lucius’ Vorgänger, Vincent Theis, hatte sich kritisch geäußert, das Ombudskomitee für Kinderrechte (ORK) sowieso. Gilbert Pregno, Kinderpsychologe und Präsident der Menschenrechtskommission, stieß kurz darauf ins selbe Horn: Jugendliche haben ein Recht auf ein erzieherisches Projekt, Jugendliche gehörten zudem von Erwachsenen getrennt untergebracht, sagte er dem 100,7. Beides sei in Schrassig nicht gegeben.

Eigentlich hatten Menschenrechtler mit der Ernennung des grünen Justizministers die Hoffnung verbunden, diesen flagranten Verstoß gegen die von Luxemburg ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention zu beheben. Doch Félix Braz hat sich bis heute zu keiner klaren Position durchgerungen. Lediglich eine Zusage machte er: Ein Jugendstrafrecht, das genauer zwischen strafenden und erzieherischen Maßnahmen unterscheidet, anstelle des geltenden Jugendschutzes werde es mit ihm nicht geben. Braz’ kürzlich vorgelegter Entwurf für eine Strafvollzugsreform enthält einen Artikel über Minderjährige in Einzelhaft. Der Minister scheint im Wesentlichen der Argumenta-tion von Jugendgericht und Staatsanwaltschaft zu folgen: Sie wehren sich vehement gegen die Einführung eines Jugendstrafrechts nach deutschem Vorbild, wollen sich zugleich aber eine Hintertür offenhalten, um jugendliche Intensivtäter doch im Erwachsenenvollzug einsperren zu können. Wie sie aussehen soll, ist unklar: Die Arbeitsgruppe, die im Justizministe-rium zur Reform des Jugendschutzgesetzes arbeitet und sich aus Vertretern des Ministeriums, des Jugendgerichts, der Staatsanwaltschaft, des Erziehungsministeriums, der Menschenrechtskommission, dem Service contrôle externe des lieux privatifs (CELPL) sowie dem ORK zusammensetzt, feilt noch am Entwurf. Weil offenbar dem Einsperren Minderjähriger in den Strafvollzug nicht kategorisch ein Riegel vorgeschoben wird, hat die Menschenrechtskommission ihre Mitarbeit nun schriftlich aufgekündigt.

Schon 2003 gab es unter dem damaligen Beamten des Familienministeriums, Mill Majerus, den Versuch, den Einfluss der Justiz beim Jugendschutz zurückzudrängen und das Gesetz von 1992 von Grund auf zu reformieren. In Luxemburg werden über 70 Prozent der inländischen und 57 Prozent der ausländischen Heimeinweisungen durch Gerichte veranlasst und nicht durchs Jugendamt. Kriminologen, Psychologen und Sozialpädagogen kritisieren, dass hilfebedürftige schwer erziehbare Kinder und ihre Eltern so Gefahr liefen, stigmatisiert zu werden. Majerus wollte vor allem das Gleichgewicht zwischen Sozialarbeit und Gerichten neu austarieren. Dafür wurde ein parlamentarischer Spezialausschuss eingerichtet, dessen Diskussionen schließlich zur Ausarbeitung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes von 2008 führten.

Die Debatte hätte Anlass sein können, auch unerwünschte Effekte des Jugendschutzgesetzes unter die Lupe zu nehmen. Europaweit diskutieren Kriminologen und Jugendstrafrechtsexperten, wie mit straffälligen Jugendlichen und jugendlichen Intensivtätern umgegangen werden soll. Statistiken zeigen, dass ihre Zahl zwar insgesamt nicht steigt, aber dass Gewalttäter immer jünger werden und sie teilweise brutaler zuschlagen. Einen Moment schien es so, als würde diese kriminal- und sozialpolitische Reflexion und Revision auch hierzulande beginnen. Auf einer Konferenz im Juni 2013 diskutierten Richter und Anwälte, Sozialpädagogen, inländische und ausländische Menschen- und Kinderrechtler über Vor- und Nachteile des Jugendschutzgesetzes. Es geht prinzipiell davon aus, dass ein Kind, ein Jugendlicher Opfer seines (sozialen, wirtschaftlichen, familiären) Milieus ist und deswegen für seine Taten nicht verantwortlich ist. Der Ansatz, der aus Belgien und Frankreich stammt und auch in Luxemburg gilt, gesteht dem Jugendrichter einen sehr großen Ermessensspielraum zu, welche Maßnahmen er für einen verhaltensauffälligen oder straffällig gewordenen Minderjährigen anordnet. Oft sind sie zeitlich nicht begrenzt, die Verantwortung des Jugendlichen für seine Tat und generalpräventive Aspekte, also der Schutz der Gesellschaft vor jugendlichen Straftätern, sind nachrangig. In den 1990-er-Jahren wurde diese Logik zunehmend in Frage gestellt.

Auch in Luxemburg. Nach dem Tod Mill Majerus’ 2011 und mit dem Regierungswechsel 2013 kam die Debatte jedoch zum Erliegen; sie wurde weder vom Parlament, noch in den Parteien aufgegriffen und im Sektor selbst nur sehr bruchstückhaft fortgeführt. Im Koalitionsprogramm der DP-LSAP-Grüne-Regierung steht die Reform des Jugendschutzgesetzes zwar als Priorität. Doch es sollte Monate dauern, bis erste Gespräche hierzu stattfanden. Nicht einmal eine Untersuchung über die Wirkungsweise bestehender kriminal- und sozialpolitischer Instrumente wurde veranlasst. Luxemburg leistet sich den Luxus, ein millionenschweres Hilfesystem für Familien in Not aufgebaut zu haben, und nicht zu prüfen, ob und wie es wirkt.

Sozialpädagogen und Psychologen monieren, das Jugendschutzgesetz von 1992 sei hinsichtlich der Dauer und der nicht sehr präzisen Unterscheidung von Straf- und Erziehungsmaßnahmen, sowie insbesondere wegen des automatischen Entzugs des elterlichen Sorgerechts bei einer gerichtlichen Heimeinweisung und im Umgang mit minderjährigen Intensivtätern dringend überholungsbedürftig. Doch auch unter ihnen sind solche, die nicht über ein Jugendstrafrecht nachdenken wollen, weil sie fürchten, damit die Rolle der (als strafend und stigmatisierend kritisierten) Justiz weiter zu stärken.

Analysiert wurden bisher lediglich Teile des Gesetzes zur Jugendhilfe von 2008 – die Evaluation wurde veranlasst, weil die amtierende Regierung an der Sinnhaftigkeit des neuen Jugendamts zweifelt. Der Auftrag des Erziehungsministeriums an die Uni Luxemburg war mit wenigen Zehntausend Euro brutto so niedrig dotiert, dass die Auswertung vor allem auf Experteninterviews und Fallakten basiert. Mit Jugendlichen und ihren Eltern wurde nicht gesprochen. Dasselbe gilt für eine kürzlich veröffentlichte Studie zu den Übergängen vom Heim ins Erwachsenenleben. Eine gründliche Analyse beider Gesetzestexte, Jugendschutz und Kinder- und Jugendhilfe, und ihrer Wechselwirkungen wäre jedoch Voraussetzung, um zu klären, welche Maßnahmen greifen und welche nicht, und was verbessert werden muss, um schwer erziehbaren Minderjährigen wirksam zu helfen. Vorbild könnte der Kinderbetreuungsbereich sein: Im Erziehungsministerium wurden in Zusammenarbeit mit der Uni Luxemburg Leitlinien für eine systematische Qualitätsentwicklung der staatlich subventionierten Kinderbetreuung erarbeitet; zuvor wurde in quantitativen und qualitativen Studien versucht, den Sektor und ihn bestimmende Praktiken zu erfassen. Der Prozess ist nicht perfekt und es muss sich noch zeigen, ob die Kinderbetreuung sich dadurch real verbessert. Aber immerhin wurden steuerungspolitische Maßnahmen hierzu ergriffen.

In der Kinder- und Jugendhilfe fehlt eine übergeordnete, fundierte, strategische Herangehensweise. Unter Regierungsberater Nico Meisch im Erziehungsministerium gab es sie in Ansätzen, seit seiner Pensionierung ist davon weniger zu sehen – und vom Justizministerium kommt auch keine Hilfe. Dabei sind klare Zielgrößen nötig, um die diversen Instrumente, von (freiwilligen und richterlich angeordneten) Unterstützungs- und Erziehungsmaßnahmen, über jugendpsychiatrische und therapeutische Interventionen, bis hin zu ambulanten und stationären Hilfen wie die Heimeinweisung und die geschlossene Unterbringung, Erfolg versprechend einzusetzen.

Die geschlossene Unterbringung in der Unité de sécurité (Unisec) in Dreiborn war gedacht als ultima ratio für verhaltensauffällige Jugendliche, bei denen eine Betreuung in einem offenen Heim nicht die erhoffte Wirkung erzielt hat. Doch obwohl die streng gesicherte Anlage seit drei Jahren bezugsfertig ist, das Personal ausgebildet und Mittel bewilligt sind, ist sie noch immer nicht in Betrieb. Ein pädagogisches Konzept liegt (nach mehreren Anläufen) vor, lässt nach Ansicht von Experten aber Fragen offen, etwa wie damit umzugehen ist, wenn Täter und Opfer gleichzeitig in der Einrichtung betreut werden. Das ist bei Sexual- und Gewaltdelikten besonders wichtig. Auf Drängen der Kontrolleure des CELPL wurden zudem Spielregeln für Disziplinar- und Sicherheitsmaßnahmen sowie Einspruchsmöglichkeiten festgelegt. Trotzdem bleibt unklar, welche Jugendliche vom Gericht in der Unisec untergebracht werden sollen. Die Menschenrechtskommission äußerte die Sorge, die räumliche Nähe zwischen dem Kinderheim in Dreiborn und der Unisec, die von ein- und derselben Heimleitung verantwortet werden, könnte dazu führen, dass Jugendliche in die geschlossene Unterbringung kommen, wenn sie gegen Regeln verstoßen, quasi als erweiterte Strafmaßnahme.

Nun ist es nicht so, dass es gar keine Informationen zu straffälligen und schwer verhaltensauffälligen Jugendlichen gibt. Eine Kommission aus Vertretern von Justiz- und Erziehungsministerium ist zuständig, freiheitsberaubende Zwangsmaßnahmen im Bereich der Jugendhilfe genauestens zu kontrollieren. Sie müsste wissen, wer warum wie lange und mit welchen Auflagen eingesperrt wird. Doch ihre Prüfberichte sind nicht öffentlich, obschon sich die Regierung gerne als Vorreiterin für Transparenz inszeniert. Hätte es die Kontrollen des CELPL nicht gegeben, wäre wohl nie öffentlich geworden, wie schlimm die Zustände in den staatlichen Kinderheimen waren, wie dort systematisch gegen Kinderrecht verstoßen wurde. Das Ombudskomitee für Kinderrechte erhält regelmäßig Zahlen zu inhaftierten Minderjährigen. Dieses Jahr waren bislang vier, 2015 drei in Schrassig inhaftiert. Davor waren es mit zwischen zehn und 20 Inhaftierten deutlich mehr. Welcher Herkunft die Eingesperrten sind, was der Grund für ihre Inhaftierung ist, welcher Erziehungsplan angeordnet wird, wie oft in Haft und Heimen untergebrachte Kinder rückfällig werden, erfährt das ORK nicht.

Dass der Jugendschutzgedanke an seine Grenzen stößt, zeigt die Entwicklung in Belgien. Das Jugendschutzgesetz von 1965 wurde 2006 unter Mitwirkung von Kriminologen, Strafrechtlern und Sozialarbeitern reformiert, um jugendlichen Straftätern, ihrer Verantwortung und dem Opferschutz besser Rechnung zu tragen. Die Überarbeitung führte zu einer Neuordnung der Erziehungs- und Strafmaßnahmen. Offenbar glauben nicht einmal die Luxemburger Richter daran, dass der Erziehungsgedanke immer dominiert, sonst würden sie kaum darauf beharren, Minderjährige in einen Erwachsenenvollzug einzusperren, für den bis heute keine Standards und Leitlinien für die Resozialisierung von Minderjährigen existieren. Auch das ist ein eklatanter Verstoß gegen die UN-Kinderrechtskonvention. So gesehen, sind inhaftierte Jugendliche hierzulande schlechter gestellt als erwachsene Haftinsassen.

Doch obwohl es alle diese massiven Lücken und Widersprüche gibt, wird das System kaum mehr prinzipiell hinterfragt. Straffällige Jugendliche sind von jeher Stiefkinder in der öffentlichen Wahrnehmung, über die Medien oft erst berichten, wenn etwas vorgefallen ist. Verantwortlich für die Blockade ist nicht nur ein Minister, der einer Konfrontation mit den Jugendgerichten aus dem Weg geht und sich früh gegen Grundsatzdebatten aussprach – sondern ebenso ein konventionierter Sektor, der sich trotz großem Engagement und viel versprechender Ansätze bis heute schwertut, systematisch herkömmliche Praktiken entlang dem neusten Stand kriminologischer, kriminal- und sozialpolitischer, psycho-therapeutischer Erkenntnisse zu überprüfen. Teilweise weil die Mittel dazu fehlen, teilweise weil das Knowhow, der Mut oder der Wille nicht da sind.

Besser eine punktuelle Reform als gar keine, lautet die Devise auch von jenen, die Veränderungen wollen. Augenscheinlich fällt es auch nach drei Jahrzenten Kritik am Jugendschutzgesetz schwer, über professionelle Grenzen und Konkurrenzdenken hinweg so viel Konsens, Expertise und Druck aufzubauen, um im Umgang mit kriminellen Jugendlichen landesweit neue Wege zu gehen. Dabei hat die Aussage einer Rechtsexpertin 2007 auf der Fachtagung „Der Umgang mit Jugendkriminalität im Spannungsfeld zwischen Erziehen und Strafen“ des Europaforums für angewandte Kriminalpolitik in Trier nichts an Gültigkeit eingebüßt: „Eine korrekte und komplette Anwendung des Übereinkommens über die Rechte des Kindes bietet die Garantie, eine Gesellschaft zu schaffen, die Kinder respektiert. Und nur eine Gesellschaft, die alle ihre Kinder respektiert, wird Kinder großziehen, die die Gesellschaft respektieren.“

Ines Kurschat
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