Schulwesen

„Es ist Zeit für die Systemfrage“

d'Lëtzebuerger Land du 06.12.2007

Romain Martin ist Luxemburgs neuer Mr. Pisa. Der Bildungsforscher präsentierte am Dienstag die aktuelle Pisa-Studie mit Schwerpunkt Naturwissenschaften. Nachdem Pisa 200 3 und 2006 vom Unterrichtsministeriums koordiniert wurde, hat nun die Uni Luxemburg das Zepter übernommen. Die neue Unabhängigkeit dient der Sache: Der Bericht für Pisa 2006 ist weniger deskriptiv, sondern schärft den Blick für die selektive Funktionsweise des Schulsystems. d’Land sprach mit Romain Martin über bestehende Diskriminierungen in Primär- und Sekundarschule und die Mechanismen dahinter.

d’Land: Bei der Pisastudie 2006 liegt Luxemburg zum wiederholten Mal unter dem OECD-Durchschnitt, bei Pirls 2007 dagegen belegt es einen exzellenten sechsten Platz. Wie kommt es, dass die Fünftklässler fitter sind als die 15-Jährigen?

Romain Martin: Bei Pisa 2006 sind wir zum dritten Mal dabei, und obwohl diesmal andere Leute die Tests durchgeführt haben, sind die Ergebnisse ähnlich. Das spricht für eine große Kohärenz. Pirls machen wir zum ersten Mal, die Testbedingungen sind andere. In Luxemburg wurden Fünftklässler mit Viertklässlern aus anderen Ländern verglichen. Der Altersunterschied zwischen den getesteten Schülern ist somit zum Teil beträchtlich. Deshalb ist es schwierig zu sagen, ob Luxemburg bei Pirls, international
gesehen, wirklich so gut abgeschnitten hat.

Die Entscheidung, Fünftklässler zu prüfen, begründet das Ministerium damit, Luxemburgs Schüler würden wegen der
komplexen Sprachsituation erst später lesen lernen. Auch soll der Altersunterschied nicht so sehr ins Gewicht fallen, sagen Experten. Immerhin hat die Bostoner Pirls-Leitstelle den Luxemburger Sonderweg anerkannt.

Pirls definiert unterschiedliche Kompetenzniveaus beim Lesen. Man hätte also auch untersuchen können, ab wann Schüler eines Landes bestimmte Lesefähigkeiten erreichen. Aber das wäre eine andere Fragestellung gewesen. Dann würde man wahrscheinlichfeststellen, dass ein Gros unserer Schüler ein bestimmtes Leseniveau erst relativ spät erreicht. Ich weiß wirklich nicht, ob Luxemburgs Position beim internationalen Pirls-Ranking empirisch abgesichert ist. Deshalb sind direkte Vergleiche mit
Pisa schwierig. Was sich aber beobachten lässt: Sowohl bei Pirls als auch bei Pisa zeigen sich ähnliche Effekte.

Welche meinen Sie?

Etwa ein Viertel der getesteten Grundschüler sind schulische Nachzügler, weil sie die Klasse wiederholen mussten. Sie waren wesentlich älter als der internationale Durchschnitt; bei Pisa sind es sogar 41 Prozent. Pirls hat darüber hinaus enorme Leistungsunterschiede zwischen Kindern aus sozial besser gestellten und aus schlechter gestellten Verhältnissen nachgewiesen.
Dasselbe gilt auch für Pisa. Die Homogenisierungsmechanismen sind dieselben.

Soll heißen, sowohl in der Primärschule als auch im Lycée wird nach unten aussortiert.

Ja. In beiden Schulen wird systematisch versucht, Kinder in Gruppen mit annähernd gleichen Leistungen einzuordnen. Bei den Grundschülern geschieht dies vor allem übers Sitzenbleiben. Ein lernschwaches Kind, das eine bestimmte Leistung nicht erbringt, wird nicht versetzt. Es muss die Klasse wiederholen. Der gleiche Mechanismus lässt sich, zum Teil noch stärker ausgeprägt, im Sekundarschulbereich beobachten. Verschärfend kommt die externe Differenzierung durch die verschiedenen filières hinzu. Je stärker sortiert wird, desto mehr scheint die Leistungsschere aufzugehen. Das zieht sich durchs ganze System.

Einwandererkinder und Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen schneiden systematisch schlechter ab. Sind sie  schwächer, gerade weil sie die Klasse öfters wiederholen mussten beziehungsweise schlechter eingestuft wurden?

Auf jeden Fall trifft die Klassenwiederholung und die schlechtere Einstufung diese Kinder besonders oft. Um die kausalen Effekte, die damit einhergehen, zu messen, bräuchten wir Längsschnittstudien. Wir haben allerdings Fälle beobachtet, in denen Schüler in den klassischen Unterricht orientiert wurden und andere in den technischen, obwohl sie vergleichbare Leistungen zeigten. Spannend wäre es, zu wissen, wer sich besser entwickelt: derjenige, der nach oben orientiert wurde und der dort zusätzlich
Hilfe von seinen Lehrern bekommt, oder derjenige, der nach unten eingestuft wird. Vieles deutet darauf hin, dass Klassenwiederholen keinen positiven Effekt hat, sondern sich wie eine Art Negativprognose hemmend auf die weitere Schulkarriere auswirkt.

Sie sprechen von mehreren Mechanismen, die Schüler benachteiligen. Welche gibt es noch?

Wenn die Schule gewisse Leistungen verlangt und davon ausgeht, dass Kinder zu Hause Verpasstes nachholen. Wie bei den Hausaufgaben. Ähnliches gilt für die Bewertung: Tests, die voraussetzen, dass man daheim lernt, benachteiligen schwache Schüler, die diese Hilfe zu Hause nicht haben. Soziale Ungleichheiten auffangen, heißt, das System so zu strukturieren,
dass man diese benachteiligenden Mechanismen ausgleicht, sei es durch Ganztagsangebote, Hausaufgabenhilfe oder ähnliches.

Lehrer und Eltern verteidigen Noten mit dem Argument, sie seien objektiv und gleiche Tests für alle gerecht.

Das sind sie aber nicht. Ich habe Noten aus der Magrip-Studie* von 1968 mit Noten von 1996 verglichen. Die Verteilung war fast identisch – obwohl man davon ausgehen muss, dass sich die Leistungsanforderungen in den fast 30 Jahren verändert haben. Es gibt also externe Faktoren, welche die Bewertung beeinflussen, und die sind nicht objektiv. Den Lehrer trifft keine Schuld, das sind eben die Grenzen des Notensystems.

Luxemburgs Schülerschaft zählt wegen ihres hohen Einwandereranteils und der Mehrsprachigkeit zu den heterogensten
der Welt. Die Ministerin betont daher, wie wichtig es sei, jeden Schüler individueller zu betreuen, ohne ihn sogleich nach unten oder oben auszusortieren. Wie kann das gehen?

Im Ausland erscheinen solche Modelle viel versprechend, bei denen Kinder in einer Gruppe zusammenbleiben und trotzdem individuelle Angebote zum Lernen bekommen. Das schließt nicht aus, leistungsstarke Schüler mit älteren Kameraden
zusammen lernen zu lassen. Wichtig ist die Flexibilität und Differenziertheit der Lernangebote. Zudem brauchen Schüler eine feste Bezugsgruppe und einen Lehrer, der sie angemessen fördert. Das sind übrigens alles Elemente, die das Proci (projet pilote cycle inférieur, d. Red.) im technischen Sekundarunterricht kennzeichnen.

Proci-Schüler schneiden laut Pisa mit einem halben Jahr Lernvorsprung besser ab als Schüler der Regelschulen. Weil sie
motivierter sind?

Das ist nicht ausgeschlossen. Was wir mit Sicherheit sagen können, ist, dass es einen Leistungsvorsprung zwischen Proci-Schüler und Nicht-Proci-Schüler gibt, der nicht mit sozioökonomischen Unterschieden zu erklären ist. Es geht nicht darum, jetzt das
Proci zum Rettungsanker für das gesamte Schulsystem zu erheben. Die sechs Schulen, die bei dem Modellversuch mitgemacht haben, haben die Proci-Kriterien, wie Weiterbildung und differenzierte Lehrmethoden, ohnehin unterschiedlich umgesetzt. Viel interessanter ist doch, dass sich dort Lehrer zusammengesetzt und eine Problemanalyse erstellt haben. Wir brauchen mehr davon: klare Ziele, wohin die Reise gehen soll, pädagogische Konzepte, wie diese zu erreichen sind und gewissenhafte
Kontrollen, ob sie erreicht werden.

Also mehr Differenzierung in der Schullandschaft?

Ja, die Schulen brauchen mehr Bewegungsfreiheit und Autonomie, um andere, neue Wege zu gehen.

Reicht das? Ist es angesichts der skandalösen strukturellen Diskriminierung von Einwanderer- und Arbeiterkinder nicht höchste Zeit, das System als solches zu hinterfragen? Die Fakten sind seit der Magrip-Studie bekannt, seitdem wurde erfolglos am System herumgedoktert.

Es ist an der Zeit, die Systemfrage zu stellen. Es stimmt, dass unser Bildungssystem bestehende Ungleichheiten reproduziert wie kaum ein anderes in der OECD. Aber genauso richtig ist, dass es für einen gewissen Teil unser Schüler funktioniert. Dadurch,
dass man ein Haus abreißt, hat man noch kein neues. Wodurch wollen wir es ersetzen? Global eine andere Richtung einzuschlagen, halte ich für gefährlich. Luxemburg ist für einen radikalen Wechsel nicht reif. Das würde massiv Widerstände provozieren, bei Lehrern ebenso wie bei Eltern. Es geht darum, sich der Mechanismen bewusst zu werden und sie schrittweise zu ändern. Indem man beispielsweise Lehrern dabei hilft, mit der Heterogenität in unseren Schulen besser umzugehen.

Ex-Bildungsministerin Anne Brasseur (DP) sagte kürzlich in einem Land-Interview, man solle „Bewährtes nicht ständig ändern“,
sondern erst einmal konsolidieren.

Das ist eine Frage des politischen Willens. Wenn die politische Botschaft die der Konsolidierung ist, dann bleibt es beim Status Quo. Das betrifft die Mechanismen ebenso wie die Resultate. Das Konsolidierungsszenario ist vielleicht sogar das wahrscheinlichste, denn es ist das, was die meisten Luxemburger am besten kennen. Denkbar wäre aber auch eine verstärkte Schulautonomie.

Böse Stimmen behaupten, man müsse sich auf luxemburgische Kinder konzentrieren. Dann wären auch die Resultate besser.

Sicher kann man den Fokus auf die Luxemburger Kinder und Jugendlichen richten, aber was für eine Erkenntnis bringt das? Schwache Resultate würden bestätigen, dass unser Schulsystem auch für Kinder mit luxemburgischen Eltern nicht wirklich
gut ist. Bessere Resultate wären ein klares Indiz dafür, dass das System sich eher für eine homogene Bevölkerung eignet. Die haben wir aber nicht. Die Luxemburger Bevölkerung ist heterogen – und sie wird künftig noch heterogener werden.

Luxemburg braucht die Einwanderer doch dringend.

Ja. Ich argumentiere ungern rein ökonomisch, aber Luxemburg steuert wie andere Länder der EU auf die Wissensgesellschaft zu. In einer globalisierten Welt, mit unserem hohen Lebensstandard, brauchen wir gut ausgebildete Fachleute. Wir müssen alle vorhandenen Kräfte optimal nutzen – auch die 40 Prozent Luxemburger mit Migrationshintergrund. Das ist sicherlich eine Riesenherausforderung. Aber es hat keinen Wert, einer Situation hinterher zu trauern, die längst Vergangenheit ist.

* Die Magrip-Studie (matière grise perdue) stellte schon damals fest, dass das Luxemburger Bildungswesen
sozial schwache Schüler benachteiligt.

Ines Kurschat
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