Das Erfolgsrezept der Piratenpartei

Give us a voice

d'Lëtzebuerger Land vom 14.06.2019

Bei den Landes- und Europawahlen im Herbst 2018 und im Frühjahr 2019 hatten zwei Parteien für Überraschung gesorgt: die CSV mit ihrem unerwarteten Desaster und die Piraten, die einen unerwarteten Durchbruch schafften und mit 7,7 Prozent der Wählerstimmen zwei Parlamentsmandate erhielten.

Die Piratenpartei, die nicht wie LSAP, KPL und Linke das variable Kapital, nicht wie DP und Grüne das konstante Kapital, sondern das immaterielle Kapital schützen wollten, sind eine lokale Franchise der nord- und mitteleuropäischen Piratenbewegung. Anfang 2006 hatte der Informatikunternehmer Rickard Falkvinge in Schweden die Piratpartiet als Reaktion auf ein von der Unterhaltungsindustrie gegründetes Antipiratenbüro, die Verschärfung des Urheberrechts auf Musik und Filme im Internet und auf den EU-Beschluss zur Vorratsdatenspeicherung gegründet. Im gleichen Jahr wurde die Piratenpartei Deutschland gegründet, die von jüngeren Männern, eher Selbstständigen als Beamten, gewählt wurde, aber auch „eine große Zahl von Randwählern gewinnen konnte, für die der Unmut über die etablierten Parteien ausschlaggebend war“ (O. Niedermayer, Die Piratenpartei, Wiesbaden, 2013).

Die Schüler und Studenten, die vor zehn Jahren hierzulande die Piratepartei gründeten, versprachen als neuen Inhalt eine neue Form von politischer Transparenz und direkte Bürgerbeteiligung dank Internet. Aber von Anfang an war die Piratenpartei zuerst ein Wahlverein, um den Jugendtraum ihres Gründers Sven Clement zu erfüllen: ins Parlament gewählt zu werden und dort Politiker zu spielen, im ordentlichen Anzug salbungsvolle Reden über alles und nichts zu halten. Die Zauberformel ihres Erfolgs wurde grenzenloser politischer Opportunismus, für den Sven Clement als stets lächelndes Gesicht der Partei stand, gepart mit hochprofessionellen Werbekampagnen, für die der Generalsekretär und Inhaber einer Werbefirma Marc Goergen stand.

Der entscheidende Durchbruch der Piratenpartei bei den Landeswahlen 2018 ist darauf zurückzuführen, dass es ihr in den letzen Wochen vor den Wahlen gelang, mit dreister Sozialdemagogie benachteiligte Wähler und Erstwähler als Antipartei anzusprechen, die kaum noch etwas mit der Partei der Computer-Nerds früher Tage gemein hatte. Dazu passte sie sich an den Trend der Zeit an und machte einen Schwenk nach rechts, den libertäre Auffassungen stets nahelegen.

In den vergangenen Wochen wurde viel über Streit in der Piratenpartei berichtet. Aber dies gehört zum Alltag neuer Parteien, da sie ihren politischen Standort suchen müssen und Frustschleudern anderer Parteien anziehen: Von der Gründung 1983 bis zur Vereinigung 1995 brauchten die Grünen mehr als Jahrzehnt: die Geschichte der ADR ist nicht zuletzt die Geschichte der Josy Simon, Aly Jaer­ling, Fernand Rau, Hilda Rau-Scholtus, Jacques-Yves Henckes, Jean Colombera, Joe Thein...

Laut 1 096 Ende Oktober und Anfang November 2018 von TNS-Ilres für die Wahlanalyse der Universität befragten Wählern (d’Land, 29.3.2019) waren die Piraten die einzige Partei, deren Wähler zu zwei Drittel unter 35 Jahre alt sind. Es war auch die einzige Partei, die zu drei Viertel von Lohnabhängigen gewählt wurde. Am meisten ähnelten die Piraten-Wähler den ADR-Wählern, da laut Selbsteinschätzung 13 Prozent sich zur Arbeiterklasse zählten, 42 Prozent zur unteren Mittelklasse, gegenüber bloß sieben beziehungsweise zehn Prozent im Durchschnitt aller Parteien, niemand zur Oberklasse. 31 Prozent der Piratenwähler gaben an, weniger als 3 000 Euro zu verdienen, drei Mal so viel wie im Durchschnitt aller Parteien. Bei keiner anderen Partei hielten so viele Wähler (40 Prozent) die wirtschaftliche Lage für schlecht, doppelt so viele wie im nationalen Durchschnitt.

Dieses Wählerprofil wurde durch die Korrelation zwischen dem Ergebnis bei den Europawahlen vor einem Monat und den sozialen Verhältnissen in den 102 Gemeinden nicht nur bestätigt, sondern im Vergleich zu den Landeswahlen im Oktober sogar noch geschärft. Vielleicht weil der Wahlkampf unter dem Einfluss vom landesweiten Wahlbezirk profitierender Kandidaten wie des von dem rechten Boulevardblatt Lëtzebuerg privat geförderten Daniel Frères radikalisiert worden war. Zwischen dem Arbeiteranteil der Gemeinden und dem Wahlergebnis lag die Korrelation für die LSAP bei R=+0,21, für die KPL bei R=+0,47 und für die Piraten bei R=+0,71 (d’Land, 31.5.2019). Im Umwerben von Opfern der neoliberalen Globalisierung erschienen die Piraten als Neuauflage der ehemaligen Rentenpartei ADR. Die Wähler der Piraten waren aber deutlich jünger als die ADR-Wähler, zählten nur drei Prozent Rentner gegenüber 40 Prozent bei der ADR und verdienten weniger und interessierten sich weniger für Politik als die ADR-Wähler.

Nur 58 Prozent der von TNS-Ilres befragten Piraten-Wähler erklärten sich mit der Demokratie im Land zufrieden, so viel wie ADR-Wähler, während die Wähler der anderen Parteien zu weit über 70 oder gar 90 Prozent mit der Demokratie, das heißt mit den herrschenden Verhältnissen zufrieden waren. Nur ein Drittel (31 Prozent) der Piraten-Wähler gab an, sich für Politik zu interessieren. Zwei von drei Piraten-Wählern entschieden sich erst in der letzten Woche vor den Wahlen, gegenüber 39 Prozent im Durchschnitt. Nur acht Prozent der Piraten-Wähler hatten schon 2013 für die Piraten gestimmt. 24 Prozent der Piraten-Wähler waren jugendliche Erstwähler, mehr als bei jeder anderen Partei, vier Mal mehr als bei der ADR. Vielleicht fanden sich in der als Antipartei aufgetretenen Piratenpartei auch vorübergehend Wähler wieder, die sonst völlig unsichtbar in der Politik, den Umfragen und den Medien sind, wie Lehrlinge, junge Arbeiter, Schulabbrecher. Daneben kamen 16 Prozent der Piraten-Wähler von der CSV, 16 Prozent von der LSAP, zwölf Prozent von der ADR und jeweils acht Prozent von Grünen und DP.

Die Mitgliedschaft der Piratenpartei entspricht in ihrer sozialen Zusammensetzung keineswegs ihrer Wählerschaft. Die führenden Leute sind fast alle selbstständige Firmeninhaber. Entsprechend sind die Wahlprogramme eine Mischung aus mittelständischem Reformismus, libertären Höhenflügen und digitalen Freiheitsversprechen. Aber die Piraten-Wähler lesen keine Wahlprogramme, weil sie sich nicht für Politik zu interessieren. Deshalb versprach die Partei im Wahlkampf 2018 mit der schrillen Ästhetik der Boulevardpresse neben Gratistransport „Police stäerken – Sécherheet fir jiddereen“, „Lëtzebuerger Sprooch respektéieren: fir jiddereen“, „Upassung vun der Mindestrent“, „E sozialen Index fir déi, déi e brauchen“ und ein bedingungsloses Grundeinkommen.

Unter dem Einfluss des von Jean Colomberas Partei für integrale Demokratie zugewanderten Immobilienmaklers und Remicher Gemeinderats Daniel Frères spielt der Tierschutz eine herausragende Rolle. Aber nicht als Teil, sondern als Gegenteil der Umweltschutzbewegung: Während die wirtschaftlich besser gestellten Grünen den Planeten, die Biosphäre und die Artenvielfalt im großen Ganzen zu retten versprechen, versprechen die Piraten, das einzelne Haustier, den Mupp, als geschundene Kreatur zu retten, so wie auch viele Piraten-Wähler geschundene Kreaturen sind, die den Produktivitäts- und Wettbewerbsansprüchen nicht gerecht zu werden wissen. Für viele Hilflose sind Hunden oder Katzen das einzige Mittel, um noch Hilfloseren ihre Fürsorge zeigen zu können. Der Tierschutzverein, mit dem der Europakandidat Daniel Frères Wahlkampf machte, heißt Give us a voice. Ursprünglich war damit die Forderung verbunden, der stummen Kreatur eine Stimme zu geben. Aber nun versprach die Piratenpartei den wirtschaftlich und sozial zu kurz Gekommenen, nicht eine Stimme zu verleihen, sondern in ihrem Namen zu sprechen – wenn diese der Piratenpartei ihre Stimmen geben.

Romain Hilgert
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