Sprachen-Aktionsplan

Leselust statt Lesefrust

d'Lëtzebuerger Land vom 24.04.2008

Eine weiße Mittelschichts-Mutter sitzt neben ihrer Tochter, die sich wohlig in ihren Arm kuschelt, und liest ihr aus einem Buch vor. So sieht das Motiv eines Werbeplakats aus, mit dem das Unterrichtsministerium Kinder zum Lesen anregen wollte – und dabei die Realität vieler Ausländer- und Arbeiterkinder mal eben so ignorierte. Dabei sind sie es, die besondere Hilfe nötig haben, dafür hat nicht zuletzt eine Studie aus dem Ministerium selbst den Beweis geliefert: 73 Prozent der Akademikerkinder finden sich im Secondaire classique wieder, aber nur acht Prozent der Kinder unqualifizierter Arbeiter. Die Grundschul-Lesestudie Pirls 2006 hat zudem gezeigt: Wer zu Hause auf Hilfe und Unterstützung zählen kann, und das möglichst früh, schneidet beim späteren Lesen in der Grundschule besser ab.

Das Ministerium hat die Signale gehört und startet daher ab Herbst im Rahmen des Sprachen-Aktionsplans eine neue zwei-gleisige Lesekampagne, die sich bewusst an sozial schwache, bildungsferne Elternhäuser richtet. Dabei steht aber nicht das klassische Text-Vorlesen im Vordergrund, so Koordinator Marc Barthelemy aus dem Ministerium. Viele Eltern schrecken davor zurück, weil sie fürchten, sie beherrschten die Sprache nicht genügend. Auch gibt es Mütter und Väter, die weder lesen noch schreiben können. Dieses Mal können sie alle mitmachen, denn bei dieser Aktion kreist alles um das Bilderbuch. „Es geht darum, Kinder und Eltern zu motivieren, überhaupt erst einmal ein Buch in die Hand zu nehmen“, so Heinz Günnewig. Der Dozent an der Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur der Uni Luxemburg steht dem Unterrichtsministerium bei der Kampagne als wissenschaftlicher Berater zur Seite. 

Dass frühes Geschichtenerzählen, Bilder deuten und Vorlesen wichtige Anreize für späteres Lesen sind, ist seit langem erwiesen. Lesen gilt als Grundkompetenz für das schulische Fortkommen – umso wichtiger, dass alle Kinder hier ähnliche Startchancen bekommen. Wenn sich Eltern mit ihrem Kind hinsetzen und Geschichten entlang von Bildern erzählen, würden die kindliche Fantasie und „wichtige neurolinguistische Prozesse“ angeregt. Die „Kommunikationssituation“ beim Geschichtenerzählen sei wichtig, so Günnewig, der vor allem auch die Väter mit der Kampagne ansprechen will. Laut Pirls klafft in puncto Lesekompetenz hierzulande zwar keine so große Lücke zwischen Mädchen und Jungen, aber erstere interessieren sich deutlich stärker fürs Lesen. 

Das Leseinteresse von Grundschülern ist im Vergleich zum Ausland insgesamt ziemlich niedrig. Damit das anders wird, hat die Regierung neben der Werbekampagne, die alle Medien – Fernsehen, Radio und Zeitungen –, Schulen und Maisons relais ebenso wie Bibliotheken und Bücherläden umfassen soll, einen Bilderbuch-Wettbewerb ausgeschrieben, der jährlich stattfinden soll: Gesucht wird das beste Bilderbuch für Kinder von vier, von zwei Jahren und von sechs Monaten, das ganz ohne Worte auskommen soll. Dieses Jahr sind die Vierjährigen dran. Mitmachen können alle in Luxemburg ansässigen Kinderbuchautoren und -illustratoren. Der erste Preis ist mit 2 500 Euro dotiert. Einsendeschluss für die Entwürfe ist der 15. Juli. Genaue Informationen gibt es unter www.men.lu, Rubrik Avis. Wenn alles gut geht, soll das Gewinnerbuch schon im Herbst erscheinen und gratis an die ersten Eltern beziehungsweise Kinder ausgeteilt werden. 

Um möglichst alle Eltern zu erreichen, hat sich das Unterrichtsministerium mit dem Gesundheits- und dem Familienministerium zusammengetan. Vor allem Kinderärzte sollen in die Aktion eingebunden werden: Über die obligatorischen Untersuchungen für Neugeborene und Kleinkinder erreichen sie die meisten Eltern, eine prima Gelegenheit, um ihnen neben Gesundheits- auch ein paar Lesetipps mit auf den Weg zu geben. Ein anderer, möglicher Ansprechpartner sind die Gemeinden. Weil es oftmals die Väter sind, die ihre Kinder anmelden, könnten sie vom Einwohnermeldeamt gezielt ein Bilderbuch als Geschenk erhalten, so der Plan, der noch mit den Gemeinden abgesprochen werden soll.

Ines Kurschat
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