Linder, Pernilla: Schwarze Wasser

Geschichte, Geschichten

d'Lëtzebuerger Land vom 01.07.2010

Eine junge Schwedin namens Linn kommt nach Luxemburg, um das Haus ihrer kürzlich verstorbenen Tante Anja zu verkaufen. Mit dem Geld will sie die Eröffnung eines Cafés in ihrer Heimatstadt Örebro finanzieren. In zwei bis drei Wochen, denkt sie, müsste der Hausverkauf zu erledigen sein – ein paar kleinere Renovierungsarbeiten, die Mithilfe eines Immobilienmaklers, eine Unterschrift, fertig.

Daraus wird natürlich nichts. Die Renovierungsarbeiten dauern länger als geplant, dann läuft vor dem ersten Besichtigungstermin das Hochwasser in den Keller, und ohnehin interessiert sich Linn schon nach kurzer Zeit zu sehr für die Geschichte des Hauses und seiner früheren Bewohner, als dass sie es wirklich auf schnellstem Weg loswerden wollte. Dass Giovanni, der ihr beim Renovieren hilft, nicht nur hilfsbereit und sympathisch ist, sondern auch eine ganz annehmbare Optik vorzuweisen hat, entwickelt sich mit fortschreitender Seitenzahl zu einem weiteren Grund für Linn, sich mit der Abreise nicht allzu sehr zu beeilen.

Bis Linn zurück nach Schweden fahren kann, müssen, aus erzählerischer Sicht, mindestens zwei Rätsel gelöst werden: Warum ist die ältliche Nachbarin, Madame Levi, so erbost darüber, dass Linn das Haus verkaufen will? Und: Was hat es mit Linns Kettenanhänger in Form eines kleinen Segelschiffs auf sich, bei dessen Anblick Madame Levi bei ihrer ersten Begegnung mit Linn beinahe aus der Fassung gerät?

Was es mit Rätsel Nummer eins auf sich hat, weiß selbst ein nur mäßig aufmerksamer Leser spätestens auf Seite 43. Madame Levi musste im Zweiten Weltkrieg als Kind mit ihrer Mutter aus Berlin flüchten und fand für einige Zeit Unterschlupf in dem Haus, das Linn geerbt hat. Sie, Madame Levi, ist selbst das kleine Mädchen in den Geschichten aus den Kriegsjahren, die sie Linn nach und nach erzählt. Leider braucht Linn viel länger als der Leser, um dieselbe Gewissheit zu erlangen. Auf Seite 83 wundert sie sich darüber, dass Madame Levi derart gut Bescheid über die Geschicke von „Hannah und Esther“ weiß. Auf Seite 94 fragt sie Giovanni, ob er wisse, wie Madame Levi mit Vornamen hieße. Es dauert allerdings noch bis zu Seite 192, bis ihr endlich ein Licht aufgeht.

Ähnlich, wenn auch nicht ganz so offensichtlich, verhält es sich mit Rätsel Nummer zwei. Linn bedeutete ihrer Tante so viel, dass ein Foto von ihr auf deren Nachttisch steht. Auf dem fast leeren Dachboden finden sich Zeitschriften mit Schiffen, Anjas liebstes Motiv beim Malen war das Meer, und so weiter, und so weiter. Auch hier dauert es trotz etlicher Winke mit dem Zaunpfahl bis fast zum Schluss, bis Linn eins und eins zusammenzählt. Psychologisch mag das nachvollziehbar sein, doch für den Leser werden diese völlig spannungslosen Retarda-tionsmomente schnell langweilig und ermüdend. Eine etwas sparsamere oder dezentere Informationsvergabe hätte das verhindern können.

Trotz dieser kompositorischen Schwächen und vereinzelter stilistischer Lapsus (Absurditäten, Salgarismen, Klischees), die man zum Teil womöglich gar nicht der Verfasserin selbst, sondern ihrer Übersetzerin anzukreiden hat, liest sich der Erstlingsroman der in Luxemburg lebenden schwedischen Autorin Pernilla Linder insgesamt recht zügig und ist auch keineswegs ununterhaltsam. Zwar erfährt man hier nichts Neues über Luxemburg oder den Zweiten Weltkrieg, der Plot ist vorhersehbar und der Stil unambi-tioniert, aber die Figuren wirken plastisch und realitätsnah und der Kitsch hält sich in annehmbaren Grenzen. Wenn sich der Leser damit abfinden kann, dass er es hier nicht im engeren Sinn mit Literatur zu tun hat, sondern einfach nur mit einer recht ordentlich erzählten Selbstfindungs- und Liebesgeschichte – wobei die Liebe der Hauptfigur offenbar genauso der Stadt gilt wie dem attraktiven ita-lienischen Helfer –, wird ihm die Lektüre nicht leid tun.

Unabhängig davon, was man über den Inhalt dieses Buches denken mag, ist die formale Gestaltung über jede Kritik erhaben. Schon zum dritten Mal (nach Der Duschenkrieg und 80 D) in diesem Jahr beglücken Miriam Rosner und Steffi Willkomm von Éditions Guy Binsfeld den Luxemburger Bücherfreund mit nicht nur sauberem, sondern regelrecht vorbildlichem Layout und Coverdesign. Könnten mehr luxemburgische Romane eine ähnlich professionelle Aufmachung aufweisen wie Schwarze Wasser, wäre ein wichtiger Schritt heraus aus der Provinzialität getan.

Pernilla Linder: Schwarze Wasser. Roman. Éditions Guy Binsfeld, Luxemburg 2010. 223 Seiten. ISBN 978-2-87954-226-3
Elise Schmit
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