Mady Delvaux-Stehres

Pragmatikerin mit Anspruch

d'Lëtzebuerger Land vom 18.09.2008

Bei ihrer letzten Rentrée vor dem Ende der Legislaturperiode setzte Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) noch einmal ein Zeichen: Indem sie die Journalisten zur diesjährigen Pressekonferenz in das Lycée technique Josy Barthel einlud, machte sie deutlich, sie steht hinter der Schule. Das Lycée war in den vergangenen Monaten wegen hoher Schülerfehlzeiten angegriffen worden. Dabei bemüht sich die Schule seit einigen Jahren um mehr Unterrichtsqualität und arbeitet dafür mit dem französischen Bildungswissenschaftler Philippe Perrenoud zusammen. Ein ambitiöses Pilotprojekt ohne Noten musste aber wegen der großen Skepsis elterlicherseits aufgegeben werden. 

Aus ihrer besonderen Nähe zu Schulen, die neue Wege beschreiten, hat die Ministerin nie einen Hehl gemacht. Das ist Programm. Ihre Amtszeit begann Delvaux-Stehres mit der Modellschule Neie Lycée, das ohne 60-Punktesystem, sondern mit Portfolio funktioniert; das Netzwerk „Écoles en mouvement“, für das sich Grundschulen freiwillig verpflichten, mit Kompetenzen und in Teams zu arbeiten, ist einer der letzten Modellversuche unter ihrer Führung. Dass die 58-Jährige die Luxemburger Schullandschaft mehr durchwirbelt hat als die meisten Unterrichtsminister und -ministerinnen vor ihr, daran besteht kein Zweifel. Während ihre liberale Vorgängerin Anne Brasseur ihre Bildungsoffensive mit dem Slogan „Back to Basics“ verbal schon ad absurdum führte und außer einer bescheidenen Reform der Sekundarschulen und dem Pilotprojekt im unteren Zyklus des technischen Sekundarschulunterrichts (Proci) keine größeren Akzente zu setzen vermochte, trat Delvaux-Stehres mit dem ambitiösen Ziel an, mehr Bildungsgerechtigkeit für alle zu verwirklichen. Die energische Politikerin, durch ihre Zeit als Sozial- und Transportministerin im Umgang mit schwierigen Reformen erprobt (Pflegeversicherung, Krankenkassen), krempelte die Ärmel hoch und setzte gleich drei Großbaustellen auf die Agenda: eine Neuausrichtung des Sprachenunterrichts, die Reform des Grundschulgesetzes und die Berufsausbildung, die von Brasseur begonnen, aber nicht zu Ende geführt wurden. 

Auch Delvaux hat sie bisher nicht abgeschlossen, aber ein Grundelement ihrer „wichtigsten Reform“ feiert dieses Jahr Generalprobe: Luxemburgs Schulen rüsten vom fast ausschließlich wissensbasierten auf einen kompetenzorientierten Unterricht um. Hierfür stellte die Ministerin einen ganzen Berg von neuen Heften und Broschüren vor, die Lehrern unterstützen sollen, sich mit der neuen Herangehensweise vertraut zu machen. Es sind erste Gehversuche, denn die von Lehrern entwickelten Standards sind noch nicht validiert – und unter Sprachwissenschaftlern umstritten. Dass sie Kompetenzen als Dreh- und Angelpunkt für ihre Reformpolitik gewählt hat, zeigt aber, dass sich die Ministerin die Botschaft der Pisa-Katastrophe zu Herzen nimmt: Beim Problemlösen schneiden hiesige Schüler extrem schlecht ab. 

Luxemburgs Schulsystem ist eines der ungerechtesten in ganz Europa; an dieser Wahrheit gibt es nichts mehr zu deuteln – auch ein Verdienst von Delvaux. Während ihrer Amtszeit wurde die kritische Analyse des Schulsystems – und der eigenen Arbeit – zur Pflicht, wo nötig auch mit Hilfe ausländischer Experten, erschienen wegweisende Studien wie die zur Klassenwiederholung oder zu den Schulabbrechern. Wohl deshalb tun sich die anderen Parteien so schwer, die momentane Bildungspolitik zu kritisieren. Die großen Leitlinien werden, nach anfänglichen Tumulten um Hausaufgaben und Promotionskriterien, von allen Parteien mitgetragen. Dem schwarzen Koalitionspartner fehlt es an nennenswerten bildungspolitischen Konzepten. Die Grünen, einstige Partei der Radikalreformer, kritteln vor allem an Detailfragen herum. Selbst Anne Brasseur, die nach ihrer Wahlniederlage reichlich Gift verspritzte, hat die Attacken eingestellt: Ihr verstaubtes Verständnis vom Schulerfolg, der vor allem von individuellem Fleiß und Leistung abhängen soll, ist wissenschaftlich nicht haltbar; das hat sich inzwischen auch in der DP herumgesprochen. 

Die Sprach- und Ideenlosigkeit der politischen Gegner heißt aber nicht, dass es an der Delvaux’schen Bildungspolitik nichts zu kritisieren und es keine Konflikte  gäbe. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet unter einer sozialistischen Unterrichtsministerin die Beziehung zur parteinahen Gewerkschaftslinken spürbar abgekühlt ist. Und das liegt nicht nur daran, dass Delvaux gleich zweimal, mit den Sekundar- und mit den Grundschullehrern, über Löhne und Arbeitzeiten stritt und die ihr einen ruppigen Verhandlungsstil vorwarfen. Insbesondere der SEW nahm und nimmt es der Ministerin bis heute übel, mit Pilotprojekten wie das Neie Lycée oder zuletzt Eis Schoul, vormals heilige Stundenregelungen angetastet zu haben. 

An einer Revision führt kein Weg vorbei: Wer eine andere Schule mit mehr Elterngespräche und mehr Teamarbeit will, wer Schüler besser fördern und anders unterrichten will, braucht Zeit. Sie lasse sich nicht vorwerfen, sie habe alte Ideen verraten, wehrt sich Delvaux gegen die Angriffe einstiger Weggefährten, und man hört ihre Enttäuschung über die Entfremdung deutlich heraus. Immerhin war sie vor allem dem SEW entgegen gekommen, als sie sich – entgegen den Forderungen fast aller Parteien – gegen Schulleiter in den Grundschulen wandte und stattdessen auf basisdemokratische Schulkomitees setzte. 

Doch die größte Kritik kommt, wie so oft, aus den eigenen Parteireihen, auch wenn sie fast nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wird. Viele können nicht verstehen, warum selbst ein Unterrichtsministerium unter sozialistischer Führung es nicht fertig bringt, den Religionsunterricht aus den Schulen zu verbannen. Die Trennung von Staat und Kirche, für viele Sozialisten die conditio sine qua non einer sozialistischen Bildungspolitik, wurde koalitionstauglich abgeschwächt: Im Wahlprogramm 2004 war wohlweislich nur noch die Rede von einem Modellversuch. Die Parteispitze versucht nun, das Pilotprojekt „Éducation aux valeurs“ des Neie Lycée als Durchbruch zu verkaufen, aber überzeugend ist das nicht. Bis heute liegt keine brauchbare Auswertung vor und dass die Laborschule Eis Schoul ihren überkonfessionellen Werteunterricht nicht genehmigt bekam, zeigt, auf was für einem verlorenen Posten die LSAP bei diesem Thema steht. Dabei liegt die Pläne für einen einheitlichen überkonfessionellen Werteunterricht für alle längst in der Schublade, sie müssen nur hervorgeholt werden.

Doch die Wunden bei der CSV durch das Euthanasie-Votum sind noch frisch und die LSAP-Führung will es sich nicht mit dem Koalitionspartner verderben. Man könnte sich ja wieder sehen. Die Sache mit dem verpatzten Werteunterricht schmerzt die Basis auch deshalb so sehr, weil die CSV noch auf einem anderen, ideologisch nicht minder bedeutsamen Feld punkten konnte: der Kinderbetreuung. Indem LSAP-Abgeordnete, statt ein eigenes flächendeckendes Betreuungskonzept zu entwickeln, für das Maisons-Relais-Gesetz von CSV-Familienministerin Marie-Josée Jacobs stimmten, trugen sie selbst dazu bei, dass die katholische Caritas ihre Vormachtstellung in diesem Bereich weiter ausbauen konnte. Zum Ärger der LSAP-regierten Südgemeinden, die es jetzt schwer haben, bestehende Betreuungsstrukturen mit neu geplanten Ganztagsschulen zu vereinbaren. Dass  Kommunen laut der Reform des 1912-er Gesetzes künftig Ganztagsschulen nach dem Modell der Escher Jean-Jaurès-Schule einrichten können, ist da nur ein schwacher Trost. Es bleibt die Erkenntnis, dass ausgerechnet die Partei, die sich Chancengerechtigkeit auf die Fahnen geschrieben hat, nicht einmal eine flächendeckende Versorgung mit Ganztagsschulen aufzuzeigen hat. 

Von der Gesamtschule gar nicht zu reden. Das Wort, ebenso wie die Idee, ist aus dem bildungspolitischen Diskurs fast völlig verschwunden, und auch die Unterrichtsministerin, sonst selbst bei heiklen Themen selten um eine Antwort verlegen, nimmt es lieber nicht zu häufig in den Mund. Dabei war die Schule für alle einst der Inbegriff für das sozialistische Streben nach Egalität und viele Jahre entscheidender programmatischer Unterschied zwischen den beiden großen Volksparteien CSV und LSAP – lange bevor es die Grünen gab. Unvergessen, dass es nach zähen und zum Teil erbitterten Wortgefechten einem sozialistischen Unterrichtsminister, Robert Krieps, sogar gelang, 1979 ein Gesetz zum tronc commun gegen die Stimmen der CSV durchzusetzen. Die Freude währte indes kurz; es wurde nie umgesetzt. Stattdessen erklärt Fraktionspräsident Ben Fayot, früher selbst energischer Verfechter eines tronc commun, heute: „L’heure n’est pas aux grandes réformes structurelles, comme au temps du « tronc commun » où l’on pensait que de nouvelles structures pouvaient résoudre d’un coup de baguette magique tous les problèmes.“ Die Gesamtschule als pubertäre Phantasie der 68-er-Generation. 

Sie sei von der Schärfe der damaligen Auseinandersetzungen traumatisiert gewesen, sagt die Ministerin im Land-Gespräch vorsichtig. Damit steht sie nicht allein. Aber würde sie sie einführen, wenn sie könnte? Beim Streit um die Gewichtung der Noten für die neu aufgegliederten Kompeten-zen bei den Sprachen war es ihr wichtiger, alle Lehrer ins Boot zu bekommen, als die pädagogisch sinnvollste Lösung durchzusetzen. Und ihre Vorzeigeschule, das Neie Lycée, hat die traditionelle Aufspaltung in classique, technique und préparatoire, größtenteils übernommen. Obwohl die Pisa-Daten belegen, dass die Orientierung auf verschiedene Schulzweige die soziale Selektion verstärkt. Ginge es um die alten Realo-Fundi-Schubläden, die Zuweisung wäre schnell gemacht. Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach, so lässt sich der nüchterne Politikstil der Sozialistin umschreiben. Delvaux selbst verweist auf ihre diesjährige Urlaubslektüre: In der kürzlich veröffentlichten Studie La place de l‘école dans la société lu-xembourgeoise de demain kommen Bildungsforscher der Uni Luxemburg zum Schluss, dass Radikalreformen in Luxemburg derzeit nur gegen erhebliche Widerstände durchzusetzen sind. Und als die Pragmatikerin, die sie eben ist und auch schon als Sozialministerin war, will sich Delvaux mit einem so aussichtslosen Kampf nicht die Finger verbrennen. Lieber setzt sie auf kleine präzise Maßnahmen, in der Hoffnung, eines Tages genügend Löcher in den Damm gebohrt zu haben. Bis er bricht.

Doch dass das genügt, um die systematische Diskriminierung von Arbeiter- und Einwanderkinder zu beenden, ist eher unwahrscheinlich. Sicher, die Unterrichtsministerin hat einen Modernisierungsschub ausgelöst, den niemand mehr rückgängig machen kann. Und vielleicht gelingt es ihr sogar, dauerhaft Weichen zu stellen für eine neue Unterrichtskultur. Das wäre schon ein Riesenfortschritt für ein Land wie Luxemburg, das wie kein anderes seine Anachronismen verteidigt. Die soziale Selektivität der Schulen wird sie damit aber nicht beheben. Dafür gehen die Änderungen nicht weit genug, die Selektionsmechanismen – Noten und Orientierung – bleiben in Kraft. Bei aller Modernisierung wird sich auch diese Ministerin daran messen lassen müssen, was unterm Strich dabei für die Schüler herauskommt. Bisher hat sich Mady Delvaux-Stehres stets gesträubt, messbare Ziele vorzugeben, beispielsweise, in den nächsten Jahren die Schulabbrecherquote von 30 auf zehn Prozent zu senken oder mindestens 60 Prozent der Schüler zu einem Abitur zu verhelfen, so wie das im Ausland der Fall ist. Sie wolle keine Vorgaben geben, solange nicht alle Kompetenzstandards validiert seien, wehrt sie derartige Anliegen ab. Auch eine Debatte über mehr Schulautonomie, um den Schulen mehr Spielraum für ihr Bemühen um Bildungsqualität zu geben, plant sie nicht. 

Ein Blick über den Zaun zeigt jedoch, wie sehr die Bildungsdebatte in Luxemburg trotz allem hinterherhinkt: In Deutschland, dessen Schulsystem einige Parallelen zum luxemburgischen aufweist und das sich ähnlich änderungsresistent zeigt, ist angesichts der klaffenden Bildungsschere zwischen reichen und armen Kindern sogar die Systemfrage kein Tabu mehr. Die Hauptschule, Auffangbecken für Bildungsverlierer aller Couleur, steht massiv in der Kritik. Selbst CDU-regierte Länder wie Hamburg, Schleswig-Holstein oder Niedersachsen verabschieden sich von dem Sackgassen-Schulzweig und wollen künftig mit zweigliedrigem Schulsystem weiterfahren. Ein Abschied vom Préparatoire und eine echte Integration jener Schüler in die Lyzeen, das wäre für Luxemburg ein deutliches Zeichen. 

Sie habe „viel von sich eingebracht“, sagt Delvaux über ihre Arbeit und gesteht sogleich, dass es ihr manchmal hätte schneller gehen können. Mit der bisherigen Bilanz ist sie trotzdem „ganz zufrieden“. Auf der Rentrée-.Pressekonferenz präsentierte sie sich gut gelaunt, in frischen Farben – und fest entschlossen, ihren Reformkurs weiterzuführen. Von Amtsmüdigkeit, wie sie ihr vom politischen Gegner nachgesagt wird, keine Spur.

Ines Kurschat
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