Luxemburgensia

Schattenboxer

d'Lëtzebuerger Land du 01.07.2011

In den Abruzzen gibt es ein kleines, für den bisherigen Verlauf der Weltgeschichte völlig unerhebliches Dorf namens Frisoni. Dieses Dorf ist Teil der Gemeinde Isola del Gran Sasso, die insgesamt knapp fünftausend Einwohner zählt und trotz einiger hübscher Ecken und Flecken nicht zu den größeren Sehenswürdigkeiten Italiens gehört.

In Anbetracht dieser ausgeprägten Unauffälligkeit des Ortes hat in Frisoni sicher niemand damit gerechnet, dass das Ortsschild jemals das Titelblatt eines Buches schmücken würde! Für die Bewohner des Dorfes mag das, falls sie darum wissen, eine Art Ehre sein. Für die Leser des Buches hingegen ist es eher eine Art Bilderrätsel: Welcher unmittelbare Zusammenhang besteht – über die bloße Homonymie hinaus – zwischen dem Autor Claude Frisoni und der Ortschaft Frisoni in den Abruzzen?

Nach der populären Variante von Ockhams Rasiermesser, die besagt, dass die einfachste Erklärung meistens die richtige ist, muss man vermuten, dass kein derartiger Zusammenhang besteht. Der Sinn dieses Bilderrätsels enthüllt sich allerdings erst beim Weiterlesen: Der Leser bekommt damit nämlich den geschickt als albernen Gag getarnten hermeneutischen Schlüssel zum Buch in die Hand.

Mit Mémo wechselt Claude Frisoni zwar zu Ultimomondo, bleibt seinem Stil aber treu. Die Gedichte und Aphorismen leben von Wortspielen, von zum Teil ganz witzigen Verdrehungen und allerlei Tändelei mit der Äquivokation. Die Losung lautet wie der Beginn des Gedichts Kyrielle IV: „Jouez avec les mots.“ Beispielsweise so: „Et la lune s’assit, /Pesante comme un souci, /Sur le poumon /D’un pont mou“, oder: „Des papes et des soutanes /Des papes et des soupapes“, oder auch: „Le juge s’assied/ Ça sied au juge, /Car le juge siège.“

Solche Spielereien sind zum Teil recht erheiternd. Mit seiner stilistischen Vorliebe handelt sich Frisoni jedoch ein Problem ein, das er oft nicht zu lösen vermag: Durch ihre lautliche Ähnlichkeit verweisen die Wörter zwar aufeinander, aber nicht mehr auf eine äußere Wirklichkeit, und sei es nur eine lediglich vorstellbare. Die Zusammenhänge, die durch Namensgleichheit hergestellt werden, bleiben dann also rein verbal, das heißt sie bedeuten eigentlich nichts. Wo die Sprache nur noch in sich selbst kreist, verliert sie ihren Inhalt.

Dass der Autor gewillt ist, für die sprachlichen Effekte seiner Texte eine gewisse Beliebigkeit in Kauf zu nehmen, zeigt sich an Gedichten wie Le tombeur: Neunzehn Verse lang akkumuliert er in nahezu dadaistischer Manier verschiedene Bedeutungen des Verbs tomber („La bataille tombait un dimanche, /Ce qui tombait mal“, und so weiter), nur um am Ende schließen zu können: „Mieux vaut tomber amoureux/ Qu’au champ d’honneur.“ Das Gedicht erweist sich nicht nur in diesem Fall als zwar aufwändiger, formal einigermaßen reizvoller, aber inhaltlich weglassbarer Vorbau für ein Bonmot.

Dabei erhebt Frisoni durchaus den Anspruch, mehr zu präsentieren als nur effekthascherisches Wortgeklingel. Ein Teil des Buches versammelt unter dem Titel „Tout sur Dieu“ Reflexionen zu Theologie, Kirche und Gesellschaft. Der gesellschaftskriti-sche Anstrich tritt außerdem besonders im letzten und gelungensten Teil des Buches zutage: In seinem „Abécédaire aléatoire, absurde et arbitraire“ gelingt es dem Autor, diejenigen Merkmale seines Schreibens, die sich vor allem in den Gedichten als Schwächen ausnehmen, größtenteils in Stärken umzuwandeln. Bei einem derart ausgeprägten Hang zum Bonmot erweist sich das fingierte Wörterbuch nämlich als ideale Formvorlage. Nach dem Vorbild von Flauberts Dictionnaire des idées reçues versieht Frisoni einzelne Stichwörter mit neuen Erklärungen und fügt ihnen erläuternde Pseudozitate bei. Da gibt es in der Tat einiges zu schmunzeln, insbesondere, wo Frisoni die ursprüngliche Wortbedeutung in seine Umdeutungen integriert. Das Adjektiv coupable etwa wird folgendermaßen umgeprägt: „Qui peut être coupé. Tous les guillotinés étaient coupables. Au moins en deux. (Maximilien Robespierre)“.

Wo aber Flaubert sein Dictionnaire als Kompendium der Gesellschaftskritik ansetzte, bleibt Frisoni nicht nur im „Abécédaire“, sondern auch im Rest des Buches ziemlich zahm. Seine Spitzen gegen die Kirche hätten zu einer anderen Epoche oder an einem anderen Ort bestimmt provoziert, aber in einem Land, in dem die Kirchen niedrigere Besuchszahlen aufweisen können als das Nachmittagsprogramm eines Provinzkinos, lockt man auch mit großem Furor keinen Pudel mehr hinter dem Ofen hervor.

Auch kann man sich fragen, wie viel Mut dazu gehört, in einem luxemburgischen Verlag, der nicht einmal zu internationalen Buchmessen fährt, auf Sarkozy und Eric Woerth zu schimpfen, über die Luxemburger aber nicht mehr zu sagen, als dass sie einen Großherzog, große Banken und viele Autos haben. Angesichts der politischen Situation Luxemburgs, wo sich eine seit Jahrzehnten vorherrschende Partei die christlichen Werte mit hin und wieder etwas mäßiger Plausibilität auf die Fahnen schreibt, erscheint das doch als ziemlich friedliche Satire.

Claude Frisoni: Mémo. Editions Ultimomondo, Nospelt 2011. ISBN 978-2-919933-69-3.
Elise Schmit
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