Animationsfilmproduktion in Luxemburg

Mangels kritischer Masse

d'Lëtzebuerger Land du 17.08.2000

Wenn Walt Disney über die Geschichte seines eigenen Erfolges sprach, pflegte er stets zu sagen: "Angefangen hat alles mit einer Maus." Will man über die Animationsfilmproduktion in Luxemburg reden, könnte man sagen: "Alles begann mit einem Kamel." Chameau blanc hieß der mit 30 Minuten Spieldauer erste größere Zeichentrickfilm made in Luxembourg. 1991 war das, eine Koproduktion mit einem belgischen Studio, realisiert von der Firma 352 Productions des Luxemburgers Daniel Schwall.

352 gibt es noch immer, allerdings als Neugründung: Nachdem Schwall mit seinem Betrieb vor fünf Jahren in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, kaufte 1996 der Belgier Stéphan Roelants die Firma auf. Heute firmiert sie unter dem Namen Studio 352, ansässig in einer großen Halle in der Industriezone Howald. Roelants, der vorher unter anderem in den USA und in England gearbeitet hat, beschäftigt einen festen Stab von 23 internationalen jungen Mitarbeitern. Man hat sich etabliert, spezialisiert auf die Vorarbeiten für Zeichentrickfilme: den Entwurf der Dekors, die Entwicklung der Figuren, deren Charaktere per Zeichnung viel rascher auf den Punkt gebracht werden können, als dies in einem Spielfilm möglich ist: da muss alles im Laufe der Story ausgespielt werden. Auch komplette Storyboards liefert die Howalder Firma, Farbgebungskonzepte ebenfalls. Ihre Dienste sind gefragt, unter den Kunden ist Weltmarktführer Disney, aber auch europäische private Fernsehstationen wie M6 und TF1 lassen Zeichentrickserien ganz oder teilweise im Studio 352 konzipieren.

Eine Erfolgsgeschichte also? Firmenchef Roelants sieht das so, auch in Ziffern. Der Umsatz des Studio 352 steigt stetig, betrug 1999 rund 90 Millionen Franken, soll sich in diesem Jahr auf 95 Millionen belaufen, und für 2001 sind 100 Millionen angepeilt.

Die Animationsbranche boomt derzeit überall. Weltweit sind gegenwärtig 51 Prozent aller Filmproduktionen Animationen. Und vor 20 Jahren etwa hatte Marktführer Disney Studios selbst damit begonnen, der Zeichentrickware, die er auf den globalen Kinomarkt warf, das Kinderfilm-Image zu nehmen: künftig sollte es Unterhaltung für die ganze Familie geben. Seit Anfang der Neunziger macht Steven Spielbergs Firma Dreamworks Disney Konkurrenz, aber auch alt eingesessene Hollywood-Studios wie Warner und 20th Century Fox haben sich im Zeichentrick-Genre versucht. Außer-amerikanische Kionoproduktionen werden ebenfalls immer häufiger. Weil daneben überall auf der Welt die privaten Fernsehkanäle ungebrochen stark nach Zeichentrickserien verlangen, Internet und CD-ROM immer neue künstlich animierte Welten transportieren, ist der Markt so groß wie nie zuvor.

Einen Eindruck vom Boom der Branche vermittelt schon der Blick auf die Kinospielpläne. "In Luxemburg hat-ten wir in letzter Zeit pro Jahr im Schnitt vier bis fünf abendfüllende Animationsfilme im Programm", sagt Nico Simon, Direktor der Utopia S.A., "früher war es mitunter nur ein einziger gewesen." Für den Utopia-Chef ist Marktführer Disney trotz der wachsenden Konkurrenz kaum zu schlagen: "Die haben ein Label kreiert, Merchandising-Ketten eingerichtet und ein einfaches, aber hoch wirksames dramaturgisches Modell entwickelt: der sympathische Held gewinnt immer. Das kommt an."

Und weil vor allem die TV-Anstalten dieses Modell übernommen haben, hält es eine wachsende Animations-Industrie weitaus mehr als nur am Leben. Auch in Luxemburg, wo es noch zwei weitere größere Betriebe gibt, die von der Erfolgswelle des Trickfilms getragen werden. In Rodange unterhält Neuroplanet, Hauptsitz Lüttich, seit 1997 ein Studio mit 73 fest angestellten Mitarbeitern. Ähnlich wie 352 hat man sich auf Vorarbeiten spezialisiert, vor allem für Fernsehserien, kann aber aufgrund der Größe des Studios an mehreren Produktionen gleichzeitig arbeiten. Und weil der französische Ableger Neuroplanet France auch in Angoulème präsent ist, dem französischen "Silicon Valley des Animationsfilms", kommt ein Großteil der Aufträge von dort. Zurzeit arbeitet man in Rodange an einem besonders ambitionierten Projekt: dem 75-minütigen Zeichentrickfilm Tristan und Isolde, der gemeinsam mit Oniria Pictures entsteht.

Oniria ist die dritte Firma im Bunde, 1995 gegründet von Thierry Schiel und Sophia Kolokouri, liefert auch sie in erster Linie konzeptionelle Vorarbeiten. Seit der Firmengründung unter anderem für den deutschen Zeichentrickfilm Werner III und die US-Produktionen The Magic Sword und The quest of Camelot - allesamt abendfüllende Langfilme. Tristan und Isolde, frei nach der Legende um den Ritter Tristan und die Prinzessin Isolde, deren Liebe von dem eifersüchtigen Zauberer Ganelon bedroht wird, der gegen Tristan allerlei Unholde aufbietet, wird der erste abendfüllende luxemburgische Animationsfilm sein und der erste, den Oniria selbst konzipiert und weitgehend in Eigenregie herstellt. Im Herbst 2001 soll er in die Kinos kommen. Oniria-Direktor Thierry Schiel sieht seinen Betrieb seit diesem Jahr auf Wachstumskurs: Fünf Jahre lang habe Oniria mit nur fünf festen Angestellten gearbeitet, nun sind es 25. Plus 55 Pauschalkräfte, befristet für die Arbeiten an Tristan und Isolde engagiert. Und schon unterhält Oniria eine Tochtergesellschaft in Berlin, eine weitere ist in Frankreich geplant.

Die Freude am ersten eigenen Projekt bei Oniria wird noch verständlicher vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die kleine Luxemburger Animationsindustrie, wie schon der Begriff es nahe legt, innerhalb eines internationalen Verwertungssystems funktioniert. Die Frage, wie sich künstlerische Ambition und kommerzielles Kalkül miteinander in Einklang bringen lässt, stellt sich natürlich. Und wenn Stéphan Roelants und Thierry Schiel betonen, ihre Betriebe könnten auch ohne das in Luxemburg geltende Tax Shelter-System bestehen - das es gestattet, für internationale Koproduktionen, an denen ein luxemburgischer Produzent beteiligt ist, bis zu 30 Prozent der Produktionskosten als Anteilsscheine an interressierte Privatiers oder Unternehmen zu verkaufen - dann kann das auch so verstanden werden, dass der Löwenanteil der Aktivitäten in dem kleinen Sektor hier zu Lande in Dienstleistungen für andere besteht, wenngleich auch höchst kreativen. "Alle meine Mitarbeiter träumen davon, einen Puppentrickfilm zu machen, ähnlich wie Wallace and Gromit", sagt Stéphan Roelants, der selbst ein Fan der beiden Knetfiguren aus dem Aardman Studio im englischen Bristol ist. "Aber das ist leider Utopie, damit würden wir uns übernehmen."

Ohnehin hat der originär europäische Animationsfilm, selbst wenn er auf den breiten Publikumsgeschmack abzielt, es nach wie vor schwer auf dem internationalen Markt. "Nous avons la diversité mais pas les moyens de diffusion, ni de promotion", bedauerte Philippe Moins, Leiter des Brüsseler Trickfilmfestivals, Anfang März in einem Zeitungsinterview. "C'est un handicap structurel que les grands studios US ne conaissent pas." Weshalb für Utopia-Direktor Nico Simon auch die neueste Knetmännchen-Animation Chicken Run aus dem Aardman Studio trotz ihrer lustigen Story, trotz der aufwändigen und mit ihren Kamerafahrten und Montagefinessen an Realfilm erinnernden Form letzten Endes nicht so erfolgreich sein dürfte wie ein großer, aber künstlerisch anspruchsloserer Disney-Film: "Disney spielt mit einer Produktion allein auf dem US-Markt 100 bis 200 Millionen Dollar ein. Wenn Chicken Run dort die Hälfte schafft, ist das schon gut." Und das, obwohl der Film in den Vereinigten Staaten von dem Großverleih Touchstone Pictures vertrieben wird.

Wer als Produzent die Verwertungsgrenzen für europäische Animationen ausschreitet, kann schnell in kommerziell unsichere Gefilde geraten. In Luxemburg tut das Paul Thiltges, der das auf Post production, Spezialeffekte und die Übertragung fertig am Computer geschnittener Animationsfilme auf Zelluloid spezialisierte Monipoly Studio betreibt. Als Koproduzent zeichnete er aber auch für zwei der meist beachteten europäischen Zeichentrickfilme der letzten Jahre mit verantwortlich: Freccia Azzurra, realisiert von dem Italiener Enzo d'Alò, und Kirikou et la Sorcière unter der Regie des Franzosen Michel Ocelot. Als Sales agent für Freccia Azzurra war es Thiltges gelungen, den Film an die amerikanische Disney-Verleihtochter Miramax für den Vertrieb in den USA zu verkaufen - eine Premiere für den europäischen Trickfilm überhaupt. Und Kirikou erzielte in Frankreich bereits bis zum Jahresende 1999  das bemerkenswerte Einspielergebnis von einer Million Zuschauer. Das Risiko bleibt vor allem für einen Koproduzenten in minoritärer Position trotzdem groß: "Eine Million Zuschauer", sagt Thiltges, "ergibt rund 260 Millionen Luxemburger Franken an Einnahmen. Aber davon gelangen nur zehn Prozent zu den Produzenten. Ich war mit einem Viertel an den Kosten für Kirikou beteiligt, damit habe ich ein Anrecht auf ein Viertel dieser zehn Prozent." 

Nicht viel für eine Produktionsfirma, die jedes Projekt vorfinanzieren muss: Geld aus dem Tax-Shelter gibt es erst nach Abschluss der Arbeiten, was ein Problem ist für alle Luxemburger Produktionsbetriebe, außer dem Delux-Spielfilmstudio, das der RTL Group gehört und damit über ausreichende finanziell Rückendeckung verfügt.

"Ich bin", sagt Thiltges, "seit zehn Jahren hoch verschuldet." Das kom-merzielle Risiko einer großen Produktion sei so groß, dass er künftig nur noch "mit Freunden" arbeiten will, mit Produzentenkollegen, die er sehr gut kennt. Für Luxemburg wünscht er sich, dass die Branche größer werden möge, damit die einzelnen Studiobetriebe stärker als Produzenten auftreten können. Zwar ist das Tax Shelter-System dafür eigentlich ein gutes Hilfsmittel und wird auch rege in Anspruch genommen. Die Käufer der Anteilsscheine setzen diese von ihrer Steuer ab; die geplanten Einnahmeausfälle für den Staat zur Förderung der Filmproduktionslandschaft beliefen sich zwischen 1996 und 1999 auf jeweils zwischen 600 Millionen und knapp einer Milliarde Franken. In Animationsprojekte flossen davon im letzten Jahr elf Prozent, 1996 waren es 22 Prozent gewesen und 1997 34 Prozent. Ein großes Problem für Luxemburger Produzenten ist jedoch der praktisch fehlende einheimische Markt: Als Tax Shelter-fähig werden von nur solche Projekte anerkannt, für die ein Luxemburger Betrieb, der als Koproduzent eines internationalen Projekts auftritt, auch Verwertungsrechte vorweisen kann. Und die lassen sich längst nicht immer aushandeln. Der Luxemburger Markt ist nicht interessant genug.

Das dürfte auch so bleiben, falls die Regierung dem in Produzentenkreisen diskutierten Vorschlag zustim-men sollte, einen Animations-Betrieb auch dann durch Tax Shelter zu fördern, wenn er reine Dienstleistungen für andere erbringt. Unumstritten ist diese Lex-Trickfilm-Idee auch unter den Produzenten selbst nicht: Stéphan Roelants vom Studio 352, der über seine Produktionsfirma Mélusine selbst gelegentlich als Produzent auftritt, sieht dadurch eine potenziell offene Tür auch für unausgereifte Projekte.

Doch selbst der Service des médias im Staatsministerium kann dem Gedanken, die heimische Branche substanziell zu stärken, einiges abgewinnen, wenn auch in eine andere Richtung: um wirtschaftliche Diversifizierung im audiovisuellen Bereich bemüht, möchte der Service am liebsten einen Schwerpunkt für Post production in Luxemburg setzen. Auch, um dem vor zwei Jahren mit der damaligen CLT-Ufa gegründete European Broadcasting Center  den Bestand zu sichern, der gefährdet sein könnte, falls die mit Pearson zur RTL Group fusionierte CLT-Ufa Produktionsaktivitäten noch stärker aus Luxemburg abziehen sollte: "Denkbar wäre", sagt Jean-Paul Zens, Direktor des Service des médias, "hier eine Zentrale einzurichten, die archivierte Filme aus großen europäischen TV-Anstalten wie der BBC oder der ARD digital aufbereitet und nachsynchronisiert." Gespräche mit der Europäischen Kommission gibt es dazu, "aber wir sind noch nicht übern Berg."

Einen wichtigen Anstoß könnte eine solche Ausweitung der Animation-s-aktivitäten im Lande aber vermutlich der Animateur-Ausbildung geben, die als Brevet de technicien supérieur seit zehn Jahren im Lycée des arts et métiers angeboten wird und aus einer zweijährigen Basisausbildung für den klassischen Zeichentrick besteht. Zwar sind die 12 Ausbildungsplätze sogar im Ausland gefragt, steht den Besten ein weiterführendes Studium am rennomierten Pariser CFT Gobelin offen. Die technologische Entwicklung aber läuft dem Ausbildungsgang längst davon: So wurden beispielsweise von den 40 Absolventen, die in den letzten vier Jahren als Praktikanten das Studio 352 passiert haben, nur vier eingestellt. "Bei uns", sagt Stéphan Roelants, "beginnt für sie die Ausbildung praktisch noch einmal. Das kostet uns Geld."

Womöglich könnten Synergien zwischen Schule und Praxis auch die Reihen der Luxemburger Animationskünstler stärken, die man derzeit noch an einer Hand abzählen kann. Sie profitieren zwar von der existierenden Produktionsinfrastruktur, und vor allem der Idealist Thiltges ist gefragt als Produzent für künstlerisch Ambitioniertes. Von der industriemäßig organisierten Arbeit an TV-Zeichentrickserien aber trennen diese Leute Welten. Vor allem Bady Minck, die in Wien und Luxemburg arbeitet und für die Animation "ein Experiment mit den Sehgewohnheiten" ist. Ihr Metier ist die Mischung von Realfilm und Animation, in ihrem neuen Projekt "Am Anfang war der Blick", einem einstündigen Film, der auf Initiative des österreichischen Wissenschaftsministeriums und mit Unterstützung des Luxemburger Filmfonds entsteht, lässt sie einen echten Schrifsteller durch Klischeelandschaften aus alten und neuen Postkarten reisen und nachspüren, wie sich durch urbane, industrielle und touristische Entwicklung Landschaften verändern, aber auch deren Wahrnehmung. Für Bady Minck, die klassischer Zeichentrick, aber auch Computeranimation nicht interessieren, stellt sich das Problem auf der Ebene der Sehgewohnheiten: "Man merkt das daran, dass Fernseh-anstalten immer seltener solche Ar-beiten zeigen, die die Darstellungsgrenzen von Bildern erweitern."

Und wenn sogar der Kulturkanal Arte in der jüngsten Vergangeheit zurückhaltender geworden ist mit der Aus-strahlung experimenteller filmischer Erkundungsgänge, fehlt in Luxemburg die Förderung einheimischen Filmschaffens egal welcher Art per TV-Ausstrahlung über Télé Lëtzebuerg, abgesehen von Sondersendungen, gänzlich - mangels eines Budgets, um für die Sendungen bezahlen zu können. Daniel Wiroth, der sich auf Objektanimationen spezialisiert  hat und dessen beide Kurzfilme Crucy Fiction (1993) und Fragile (1997) mit zankenden Gabeln bzw. verliebten Gläsern auf mehreren Festivals preisgekrönt wurden, erhielt für die Ausstrahlung des achtminütigen Fragile von RTL pro Minute 50 Franken.

"Es lässt sich gut produzieren in Luxemburg", sagt Daniel Wiroth ebenso wie Bady Minck. "Aber es gibt noch zu wenig Miteinander." Der junge Filmemacher, der an der von der Bauhaus-Idee inspirierten Brüsseler Cambre-Filmschule studiert hat, fühlt sich mit seinen künstlerischen Ambitionen in Luxemburg manchmal ziemlich allein. Sein Wunsch: animierte Objkte in Spielfilme zu integrieren, ähnlich, wie der Amerikaner Tim Burton das macht. Sein Prinzip Hoffnung: dass sich über die noch nicht lange bestehende Lëtzebuerger Associatioun vun de Realisateurën a Szenaristën (Lars) mehr Kooperationen ergeben. Wirtoh, der auch Mitglied der belgischen Schwesterorganisation ist, will will stärkere Kontakte zwischen beiden anbahnen: "Luxemburg allein ist einfach zu klein."

 

Peter Feist
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