Reform der Orientierungsprozedur nach der Grundschule

Chancengleichheit?

d'Lëtzebuerger Land du 18.12.2008

Wenn Luxemburgs Siebtklässler dieses Trimester ihr Zeugnis bekommen, werden sie zum ersten Mal das Complément au bulletin in den Händen halten. In dem Zusatzzeugnis werden neben dem Schriftlichen, auch die Kompetenzen Lesen sowie das Hörverständnis bewertet. So erhalten Eltern genauer Auskunft darüber, was ihre Kinder in den Kernfächern Sprachen (und Mathe) können. 

Nun wagt das Unterrichtsministerium den nächsten Schritt: Auch die Orientierung, nach Meinung von Experten wesentliche Ursache für die hohe Quo­te an Sitzenbleibern und Schulabbrechern nach der 9e im technischen Se­kundarunterricht (EST), soll auf der Grundlage von Kompetenzen gesche­hen. Ein Reflexionspapier, das den Schulleitungen, Gewerkschaften und dem Elterndachverband Fapel zur Prüfung vorgelegt wurde, beschreibt das neue Verfahren. Demnach würde die Orientierung nach wie vor auf der Neunten erfolgen, allerdings nicht auf Grundlage des aktuellen 60-Punk­te-Systems, sondern an­hand der im Complément au bulletin de­finierten vierstufigen Bewertungsschemas „très bon­ne maî­trise, maî­trise, en voie d‘acqui­sition, maîtrise insuffisante“.

Damit eng verbunden ist ein weiteres Novum: Anders als das herkömmliche Notensystem, in denen es pro Fach eine Zensur gibt, die, sofern nicht kompensierbar, über das Weiterkommen entscheidet, sieht die neue Bewertung unterschiedliche Sprachanforderungen vor. Um beispielsweise Bäckerin oder Gärtner werden zu können, braucht ein Schüler künftig nur eine Sprache, Deutsch oder Französisch gut zu beherrschen. In der zweiten Sprache sollen geringere Anforderungen genügen.

Ähnlich differenziert soll der Zugang zum Technique générale und zur Technikerausbildung funktionieren, wenngleich die Messlatte dort etwas höher liegt: Um eine Division non spécialisée en langues besuchen zu können, muss ein Schüler sowohl Deutsch als auch Französisch gut verstehen. Gut sprechen und fehlerfrei schreiben können muss er aber nur eine Sprache. Damit würde eine jahrzehntealte, unter anderem vom Europarat in Straßburg erhobene Forderung erfüllt, dass nämlich Luxemburgs Mehrsprachigkeit nicht zur Ausgrenzung hunderter Schüler führen darf. Wem bislang wegen mieser Noten in Deutsch oder Französisch  eine Ausbildung versperrt blieb, kann nun hoffen – und bekommt über eine Art Aufnahmeexamen eine zweite Chance, vielleicht entgegen der Empfehlung des Klassenrates seine gewünschte Ausbildung doch zu machen. 

Das klingt prima, ganz geheuer ist den Vertreterinnen der Fapel der ministerielle Vorschlag dennoch nicht. „Das Papier besteht aus lauter Versatzstücken. Es ist nicht klar, wie das neue Bewertungssystem an das alte anknüpft und was die neuen Bewertungen überhaupt genau aussagen“, bemängelt Fapel-Präsidentin Michèle Retter. Von einer regelrechten Abkehr des 60-Punkte-Systems ist im Entwurf zu keinem Moment die Rede. Ein Zugeständnis an skeptische Eltern und Lehrer? Ministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) hatte im Sprachenaktionsplan von 2006 geschrieben, die herkömmlichen Noten blieben zunächst erhalten. Mit dem jetzigen Vorschlag würde das aktuelle Bewertungssystem in Frage gestellt, wenngleich nur für den technischen Sekundarunterricht.

Aber was ist eigentlich eine „bonne maîtrise“ in Französisch oder Deutsch? Das Papier nennt als Referenz das Europäische Sprachenportfolio. „Das aber bezieht sich auf den Erwerb von Fremdsprachen“, wirft Liliane Bredimus, Fapel-Sektärin skeptisch ein. Seit Monaten arbeiten Programmkommissionen, Lehrer und Beamte daran, vergleichbare Kriterien für die Luxemburger Sprachsituation zu entwickeln, ein äußerst komplexer Vorgang, der noch nicht für sämtliche Jahrgangsstufen abgeschlossen ist. So liegen die Indikatoren und Kompetenzniveaus für die Kernfächer der siebten Klasse vor, die achte ist in Arbeit. Für die neunte Klasse aber fehlen sie – dabei soll die neue Bewertung dieses Jahr schon an den ehemaligen sechs Proci-Schulen getestet werden. „Wie wird das gehen?“, fragt Retter. „Die Schüler sind Versuchskaninchen einer unfertigen Reform“, empört sich Bredimus, die ein "nivellement vers le bas" befürchtet.

Die Pisa-Ergebnisse sprechen eine andere Sprache: Proci-Schüler haben ge­genüber Schülern von Regelschulen einen Lernvorsprung von rund einem halben Jahr. Allerdings, das ergab eine 2007 vorgestellte Zwischenevaluation des Proci-Projekts, wurden mehr Proci-Schüler in die Technikerausbildung orientiert als ihre Kollegen an den Regelschulen und weniger ins technische Gymnasium. Hinter der Elternskepsis steht daher vor allem eine – berechtigte – Sorge: Dass das Schulversagen bereits in der Grundschule beginnt und eigentlich nie richtig angegangen wird. Laut Grundschullesestudie Pirls 2006 können hiesige Schüler recht gut lesen. Weil aber in Luxemburg Fünftklässler statt, wie sonst üblich, Viertklässler getestet wur­den, ist das vergleichsweise gute Abschneiden mit Vorsicht zu genießen. Nun argwöhnt die Fapel, mit dem neu­en Bewertungsmodus beabsichtige das Ministerium womöglich vor allem ei­nes: Schüler mit schwächeren Noten ver­stärkt in den Techniker- und in die Be­rufsausbildungen abzuschieben und so durch das Schulsystem zu schleusen. Während der Zugang zum begehr­ten Classique weiterhin vielen versperrt bleibt. „Ich vermisse ein klares Förderkonzept für den unteren Zyklus“, so Retter. „Und eines für den Classique.“

Dass die alten Auslesekriterienkeineswegs ad acta gelegt sind, zeigt sich bei der provisorischen Definition der Zugangskriterien nach der sechsten Grundschulklasse, die an den Écoles en mouvement getestet werden sollen: Demnach müssen Schüler, die aufs klassische Gymnasium wollen, auch künftig höhere Sprachanforderungen in Deutsch vorweisen als im Französischen. Damit aber bliebe romanophonen Schülern der Zugang zum klassischen Abitur nach wie vor erheblich erschwert. Echte Chancengleichheit sieht anders aus.

Ines Kurschat
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