Pisa 2006

Chancenverschlechterungssystem

d'Lëtzebuerger Land vom 06.12.2007

Nur Ignoranten können noch leugnen, dass unser Schulsystemein dickes Problem hat. Zum zweiten Mal in Folge erzielt Luxemburg bei Pisa schlechte Resultate (Pisa 2000 wird von Experten aus methodischen Gründen nicht berücksichtigt). Dabei geht es weniger um das Ranking. Der Platz 34 von 57 schmerzt, zumal wenn man weiß, dass es Länder gibt, bei denen sich ein Aufwärtstrend abzeichnet. Luxemburgs Situation dagegen ist unverändert.

Viel schlimmer aber: Luxemburg ist Weltmeister im Diskriminieren seiner Einwanderer- und Arbeiterkinder. Nur Bulgarien schneidetnoch schlechter ab. Das ist, auch wenn portugiesische und kapverdische Vertreter bei Presseterminen gnädig darüber hinwegsehen, ein echter Bildungsskandal. Luxemburgs öffentliche Schule, ursprünglich angetreten, gleiche Bildungschancen für alle zugarantieren, sorgt für das Gegenteil. Zwei bis zweieinhalb Jahrenbeträgt der Rückstand der Einwandererkinder zu LuxemburgsBesten. Weil häufig gerade Einwandererkinder aus bildungsfernenElternhäusern stammen, sind sie doppelt benachteiligt.

Es ist Pisa zu verdanken, dass dieser Makel unübersehbar ist. Der thematische Schwerpunkt von 2006 liegt zwar auf den Naturwissenschaften. Dass luxemburgische Schüler dort schlechterabschneiden, war zu erwarten, angesichts der eher geringenPriorität, die das Fach im hiesigen Lehrplan genießt. Doch das Forscher-Team der Uni Luxemburg hat in seinem Bericht denFokus zudem auf die Funktionsmechanismen gelegt – und damitden Finger in die Wunde. Nach Pisa 2003 und der Klassenwiederholerstudie von 2006 zeigt sich einmal mehr, woran unser Schulwesen krankt: Es sortiert lernschwache Jugendliche systematisch aus, lässt sie im wahrsten Sinne des Wortes sitzen, ohne dass dies die Leistungen der betroffenen Schüler verbessert. 

Und die guten Ergebnisse der Grundschul-Lesestudie Pirls? Leiderstellt sich die Frage, ob Pirls auch so gut ausgefallen wäre, wenn man in Luxemburg, wie in den meisten anderen Ländern, Viertklässler statt Fünftklässler getestet hätte. Wohlgemerkt, es geht nicht darum, gute Leistungen schlecht zu reden, oder die besondere Sprachensituation auszublenden, aber Zweifel an der wissenschaftlichen Exaktheit des Rankings sind berechtigt. Stutzig macht, dass das Ministerium zwar sagt, der internationale Vergleich sei gar nicht so wichtig – der ehemalige Mr. Pisa, Script-Direktor Michel Lanners, die Tatsache der unterschiedlichen Vergleichsbasis vor laufender RTL-Kamera aber unter den Tisch fallen lässt. Auch der Courrier de l’éducation nationale über Pirls, der sogleich an alle Grundschullehrer verschickt wurde, erwähnt dies nur in einem Nebensatz. Seriös ist das nicht.

Der wahre Wert der Pirls-Studie zeigt sich erst, wenn man dieLuxemburger Pirls-Daten im Kontext analysiert. Sie sind denender Sekundarschulen erschreckend ähnlich. Schon in der Grundschule kommt ein Viertel der Schüler nicht mehr mit und mussdie Klasse wiederholen. Wie in den Sekundarschulen sind es vor allem Einwandererkinder und Kinder aus sozial schwachenVerhältnissen, die ins Hintertreffen geraten. Auf den Misserfolgin der Primärschule folgt der Misserfolg in der Sekundarstufe. Und später dann der Schulabbruch.

Bei solchen Fakten ist es nur logisch, irgendwann einmal dieSystemfrage zu stellen. Nicht um ideologische Grabenkämpfe zu beginnen oder wiederzubeleben, sondern um die strukturellenUrsachen zu benennen – und endlich adäquat gegenzusteuern.LSAP-Ministerin Mady Delvaux-Stehres hat das eingeräumt, auchwenn sie weiß, dass eine radikale Änderung des Schulwesensschon wegen des zu erwartenden Widerstands nicht sogleich inFrage kommt. Sie will den Proci im unteren Zyklus des technischenUnterrichts in allen Schulen einführen. Das ist keine Revolution,aber ein Schritt in die richtige Richtung. Wichtig wäre, die Selektionsmechanismen zu lockern und die Schüler möglichst viel zufördern. Da dürfen auch das rigide Notensystem und die Orientierung kein Tabu mehr sein.

Konsolidierung des Status Quo, wie es die DP-Abgeordnete undEx-Unterrichtsministerin Anne Brasseur fordert, ist jedenfalls keineOption. Selbst wenn Pisa nicht alles misst, und insbesondere diehohen Sprachanforderungen nicht genug berücksichtigt: Dassunser Schulsystem Kompetenzen extrem selektiv vermittelt, ist einFakt, an dem ein anderer Untersuchungsschwerpunkt nichtsändern würde. Luxemburg mit seinem großen Dienstleistungssektorund seinem Lebensstandard kann es sich auf Dauer nichtleisten, über ein Drittel der Bevölkerung mehr schlecht als rechtauszubilden. Ganz ohne Pathos: Es geht um die Zukunft unsererKinder. Und die Luxemburgs. 

Ines Kurschat
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