Étienne Schneider, Manuel Valls, Matteo Renzi, Pedro Sanchez sind sozialliberale Wunderknaben wie aus einem Guss

Rechte Rebellen

d'Lëtzebuerger Land du 19.09.2014

Manchmal reiben sich die Sozialisten noch immer ungläubig die Augen: Am allerwenigsten sie selbst hatten daran geglaubt, dass sie nach zwei Legislaturperioden an der Seite von Über-Pre­mier Jean-Claude Juncker, nach der großen Wirtschaftskrise und dem Ende der Tripartite noch einmal der Regierung angehörten. Doch dann war bekanntlich alles anders gekommen: Die Partei hatte nicht nur den Mut gefunden, vorzeitig die Koalition mit der CSV aufzukündigen, sondern ihr gelang auch das Kunststück oder der Gauklertrick, nach neun Jahren Regierungsbeteiligung als Oppositionspartei in den Wahlkampf zu ziehen. Dadurch kam sie mit einem blauen Auge davon, durfte überraschend in der Regierung bleiben, und wurde Luxemburg ein wenig ein romanisches Land.

Denn das Geheimnis dieses Kunststücks trägt den Namen eines Manns: Étienne Schneider. Aus Angst vor der nahenden Wahlkatastrophe leistete sich die LSAP in der Regierungskrise vor einem Jahr einen Spitzenkandidaten, der es unter normalen Bedingungen vielleicht schwer gehabt hätte, die Kontrolle über die zweitgrößte Partei im Land zu erringen. Jener Partei, die noch drei Jahre zuvor Arbeitsminister Nicolas Schmit als ihren Che Guevara feiern durfte, um das Sparpaket der Regierung gutzuheißen.

Wirtschaftsminister Étienne Schneider ist die Luxemburger Variante eines Sozialliberalen neuen Typs, wie es ihn in den großen romanischen Ländern gibt: den neuen französischen Premier Manuel Valls, den neuen italienischen Premier Matteo Renzi, den neuen Generalsekretär der spanischen Sozialisten, Pedro Sanchez. Sie alle sind politische Erben von Tony Blair, der in Großbritannien die New Labour verkörperte und mit den Mitteln der Werbeindustrie mehr Margaret Thatcher als ihr Programm ablöste.

Tony Blairs Erben in Frankreich, Italien, Spanien, Luxemburg haben überraschende Gemeinsamkeiten. Sie sind Männer in Parteien, die sich noch immer auffallend schwer tun mit der Gleichstellung der Geschlechter. Der LSAP misslang bisher, was selbst die konservative CSV fertigbrachte: Geschlechterquoten in der Partei einzuführen. Manuel Valls gibt den autoritären, Matteo Renzi den spaßigen Macho. Die spanischen Sozialisten veröffentlichen nach Parteiveranstaltungen Großaufnahmen von Genossinnen, die Pedro Sanchez verliebt anhimmeln.

Die Vier gehören der gleichen Generation an: Étienne Schneider ist Jahrgang 1971, Pedro Sanchez wurde 1972 geboren, Matteo Renzi 1975. Nur Manuel Valls, Jahrgang 1962, ist zehn Jahre älter, gibt sich aber betont jugendlich. Für die Ämter der Premierminister, des Vizepremiers oder Spitzenkandidaten sind sie nach traditionellen Verhältnissen jung. Das ist das Zeichen ihres Ehrgeizes und ihrer Ungeduld.

Sie gefallen sich in der Rolle der Rebellen gegen die verstaubte Parteipolitik, „Rottamazione“ – Verschrottung – war der Schlachtruf von Matteo Renzi, „Die Fenster weit aufstoßen“, versprach Étienne Schneider im Wahlkampf. Doch sind sie nicht Rebellen gegen den, sondern aus dem Parteiapparat. Pedro Sanchez, der als Abgeordneter und Stadtrat von Madrid immer nur nachrutschte, ist das neue Gesicht der Partei, mit dem sie auf Distanz zur unpopulären Austeritätspolitik der sozialistischen Regierung Zapatero gehen möchte. Mit dem ehemaligen Christdemokraten Matteo Renzi antwortet die italienische PD auf Silvio Berlusconi. Manuel Valls, der parlamentarischer Referent des späteren Premiers Michel Rocard und Kommunikationsbeauftragter von Premier Lionel Jospin war, gibt sich als Rebell, um den Rechtsruck von Präsident François Hollande heldenhaft aussehen zu lassen. Es sei niemandem mehr zuzumuten, „30 Jahre lang Dorffeste zu besuchen und Bratwurst zu essen, um einmal ins Parlament gewählt zu werden“, hatte im Wahlkampf Étienne Schneider allen Quereinsteigern und Senkrechtstartern aus dem Herzen gesprochen. Er, der parlamentarischer Referent und Regierungsbeamter, aber nie Abgeordneter war, wollte den CSV-Staat gründlich umkrempeln und so Wirtschaftsminister bleiben.

Deshalb kamen die Vier oft durch politischen Vatermord an die Macht, den nicht nur Pedro Sanchez an Luis Rodriguez Zapatero verübte. Manuel Valls destabilisierte seinen Vorgänger Jean-Marc Ayrault, um selbst Premier zu werden, und versucht es derzeit mit François Hollande, um für die Präsidentschaftswahlen zu kandidieren. Matteo Renzi war Referent des Bürgermeisters von Florenz, Lapo Pistelli, um dann gegen ihn zu kandidieren und selbst Bürgermeister zu werden. Étienne Schneider setzte sich als Spitzenkandidat handstreichartig gegen Vizepremier Jean Asselborn durch – auch wenn es für Asselborn die einzige Chance war, Außenminister zu bleiben.

Bescheidenheit ist nicht ihr Markenzeichen. Dem „Berlusconi der Linken“, Matteo Renzi, hängt der angebliche Ratschlag seines Beichtvaters an: „Dio esiste ma non sei tu!” – Gott existiert, aber du bis es nicht. Pedro Sanchez pflegt angestrengt seine Ähnlichkeit mit Cary Grant. Vor einem Jahr erklärte Manuel Valls: „Je fais de la politique, je suis ambitieux. [...] J’ai toujours pensé que j’avais la capacité d’assumer les plus hautes responsabilités de mon pays.“ Étienne Schneider, der sich im Wahlkampf nicht mehr mit dem Status des „Juniorpartners“ der CSV zufrieden geben, sondern selbst Premier werden wollte, verlangte bei der Regierungsbildung ein bunt zusammengewürfeltes „Superministerium“ und lässt nie einen Zweifel daran, dass er der heimliche Premier ist, der sich nach Herzenslust in die Ressorts seiner Kollegen einmischen darf.

Ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein und ihre Eitelkeit helfen Tony Blairs Erben dabei, nach dem großen Vorbild unablässig ihr Bild in den Medien zu pflegen. Jede Home-Story scheint ihnen lieber als eine Parteiversammlung. Matteo Renzi weiß sich für jede Kamera in der ausgewählten Kleidung in Pose zu werfen, während Pedro Sanchez den Charmeur spielt. Manuel Valls stampft mit verbissenem Grinsen durch die Fußgängerzonen und Étienne Schneider, der seinen politischen Aufstieg mit einer Abmagerungskur einleitete, liefert jedem Medium maßgeschneiderte kesse Sprüche.

Das von Tony Blairs Erben vorgelebte Ende der Bescheidenheit wirkt wie Balsam für ihre leidgeprüften Parteien. Fühlen sich die Sozialisten seit Jahren hilflos von Arbeitslosigkeit, Austerität und Liberalismus überrollt, stärkt das resolute Auftreten der Valls, Renzi, Sanchez und Schneider endlich wieder ihr Selbstbewusstsein. Étienne Schneider, dem bis dahin vorgeworfen worden war, seine Parteikarte bloß zu benutzen, um Verwaltungsratsposten zu sammeln, wurde von der LSAP mit seltener Einmütigkeit zu ihrem Spitzenkandidaten gewählt. Frenetisch applaudieren Parteikongresse den vier Helden, und wer nach ihrem politischen Standpunkt fragt, erscheint als unverbesserlicher Spielverderber. Auch wenn die Energiebündel mit ihrem übertriebenen Ego und der wilden Ungeduld, endlich „aufzuräumen“, vielleicht nur eine moderne Variante des starken Manns in der Politik verkörpern.

Als solche machen sie den Tabubruch zu ihrem Markenzeichen. Das Tabu ist in ihren Augen die linke, aus der Arbeiterbewegung entstandene Tradition ihrer Parteien mit einer angeblich leistungshemmenden sozialstaatlichen Umverteilung, schwerfälligen Regulierung und nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik. Sie stellen ihre Parteien in Zeiten der Globalisierung als verstaubt und unzeitgemäß dar und wollen mit ihrem rücksichtslosen Tabubruch den Weg der alten sozialistischen Parteien in den modernen Sozialliberalismus ebnen. Halten die einen noch einen Umweg über die Sozialdemokratie für nötig, so hat Matteo Renzis Partei inzwischen schon den Namen vom politischen Ausdruck dieses Sozialliberalismus, Barack Obamas Demokratischer Partei, übernommen. Das Tabu, das gebrochen wird, ist, sich zum rechten Flügel einer linken Partei zu bekennen.

Als liberale Technokraten werfen die Vier die Grundsätze und Tradition ihrer längst von Mittelschichten dominierten Parteien als Ideologie über Bord, um endlich in der Zukunft anzukommen, das heißt den Patriotismus zum Produktions­standort zum Parteiziel zu erklären. „J’aime l’entreprise! J’aime l’entreprise!“, beteuerte Manuel Valls vor dem Unternehmerdachverband Medef, und Étienne Schneider lässt sich provokativ mit seinem Rolly Royce ablichten. Während sie sich in der als Wahlkampfmaschine noch immer benötigten Partei auch schon einmal als Vertreter der kleinen Leute darstellen, was sie selbstverständlich nicht Opportunismus, sondern Pragmatismus nennen.

Vielleicht rücken die Vier deshalb vor allem die Reform der Institutionen ins Schaufenster. Matteo Renzi will den italienischen Senat abschaffen. Nach der Abschaffung der Hälfte der französischen Regionen sollen unter Manuel Valls die Conseils généraux verschwinden, Étienne Schneider versprach, die Regierungen zu verkleinern, die Mandatsdauern zu begrenzen, das Ausländerwahlrecht bei Legislativwalen einzuführen, das Wahlalter zu senken, die Patronatskammern zusammenzulegen…

Manchmal vergessen sie aber, dass sie weniger durch den Sukkurs der Wähler für ihre Person oder ihr Wahlprogramm als durch die Ablehnung ihrer rechten Vorgänger an die Macht gekommen sind. Die französische Regierung entstand aus dem Überdruss der Wähler mit Präsident François Sarkozy. Matteo Renzi wurde durch den Bankrott des Systems Berlusconi Premier, Étienne Schneider profitierte vom ­Fiasko des Systems Juncker.

Doch nach ihren markigen Worten werden Tony Blairs romanische Erben an ihren Taten gemessen. Und in einer Zeit, da Stabilitätspakt, Schuldenbremse und Six-Pack dabei sind, sozialdemokratische Politik für gesetzeswidrig zu erklären, brechen die Widersprüche auf. Manuel Valls läuft Gefahr, mit François Hollande in der Austeritätspolitik und den Affären unterzugehen. Matteo Renzi, der ein Schnellfeuer an Reformen angekündigt hatte, erscheint zunehmend als eitler Schwätzer. Wenn die Regierung in einem Monat ihre Steuererhöhungen und Leistungskürzungen vorgestellt haben wird, könnte sich auch in der LSAP und im OGBL Ernüchterung über Étienne Schneider als Heilsbringer der Linken bemerkbar machen.

Romain Hilgert
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