Grundschulreform

Überraschung!

d'Lëtzebuerger Land du 09.07.2009

Die Grundschulreform zügig umsetzen, das technische und das klassische Lyzeum einander annähern sowie die Dreisprachigkeit lockern – das sind die drei bildungspolitischen Schwerpunkte der rot-schwarzen Koalition für die kommenden fünf Jahre, teilte ein gut gelaunter Jean Asselborn nach der sechsten Verhandlungsrunde am Dienstagabend den Journalisten mit. Das spricht nicht nur für eine inhaltliche Kontiunität: Auch wenn mit der offiziellen Ernennung der Minister/innen erst Ende Juli zu rechnen ist, ist das Signal gegeben: Mady Delvaux-Stehres (LSAP) wird höchstwahrscheinlich Unterrichtsministerin bleiben. Immerhin hat sie die Reform des 1912-er Gesetz auf die Schiene gesetzt, da bietet es sich schon aus inhaltlichen Gründen an, sie auf dem schwierigen Posten zu belassen.

Ohnehin hätte der schwarze Koalitionspartner an dem Dossier in der neuen Amtszeit nicht viel Freude gehabt. Denn die Umsetzung der Reformen, das wird in diesen Tagen deutlich, ist nicht nur wegen der Finanz- und Wirtschaftskrise eine Riesenherausforderung – mit ungewissem Ausgang. Nachdem erste Gemeinden, über die zentralisierte Personalverteilung gar nicht froh, über Unklarheiten und Chaos bei der diesjährigen Zuteilung von Lehrpersonal klagen (d’Land, 26.06.09), hat sich nun das OGBL-Syndikat SEW zu Wort gemeldet. In einer Pressemitteilung warnt es das Ministerium vor dem „risque de faire péricliter leur propre projet en voulant précipiter les choses“. Hauptaugenmerk gilt den neuen Schulkomitees und ihren Auswirkungen auf bestehende, vom SEW ins Leben gerufene Comités de cogestion. Mady Delvaux-Stehres hatte damals gegen den Willen des Koalitionspartners auf die Einführung von Grundschuldirektoren verzichtet, ein Zugeständnis an die Lehrervertreter, um deren Zustimmung für die Reform zu sichern. Um ihren – mühsam erkämpften – Einfluss auf die Grundschulpolitik nicht zu verlieren, hat der SEW daraufhin seine Mitglieder aufgefordert, sich in die neuen Komitees zu melden: „Les règlements grand-ducaux étant très récents et les délais extrêment rapprochés, la plupart des instituteurs se sont pliés en quatre pour pouvoir démarrer conformément aux nouvelles réglementations le 15 septembre prochain“, heißt es in der Pressemitteilung.

Der Zeitplan für die Umsetzung des ab kommendem Schuljahr geltenden Gesetzes ist in der Tat äußerst eng – und zudem nicht wirklich transparent. Von den 154 Grundschulen haben 143, also mehr als 90 Prozent, bereits ein Komitee auf die Beine gestellt und ihren Präsidenten beziehungsweise ihre Präsidentin gewählt. In Anbetracht der Kürze der Zeit – das Wahlverfahren wurde erst Ende April gesetzlich definiert – eine achtbare Leistung, die allerdings für den Fortgang der Reformen unabdingbar ist. Denn es sind die Präsidenten der Schulkomitees, die unter anderem dafür Sorge tragen, die Kommunikation mit den Eltern sicherzustellen. „Wir wissen noch gar nicht, wie es weitergeht“, so ein Vater aus dem Norden, der in der örtlichen Schulkommission aktiv ist und sich über die „scheibchenweise“ Informationspolitik beklagt. Außer der Broschüre zum Gesetz, die sich Interessierte auf der ministeriellen Homepage www.men.lu herunterladen können, und den mündlichen Erläuterungen der Ministerin auf ihrer Mega-Informationstour im Frühjahr habe man keine zusätzlichen Erläuterungen erhalten. Vor allem, wie das neue „Partenariat“ zwischen Eltern, Lehrern und Schule stattfinden soll, sei „völlig im Nebel“, so der Vater entnervt, der mit dieser Kritik nicht alleine da steht.

„Auch wir haben von offizieller Seite außer den Ausführungsbestimmungen kaum Neues gehört“, bestätigt Michèle Retter von der Elterndachorganisation Fapel. Nachdem vor den Wahlen die Werbetrommel „so intensiv wie sonst für noch keine Reform“ gerührt worden sei, herrsche mit einem Mal nahezu Funkstille. Derweil laufen bei der Elternorganisation die Telefondrähte heiß: Mütter und Väter wollen wissen, wann sie wo mitbestimmen können, andere sorgen sich, was es mit dem neuen Bewertungssystem auf sich hat oder was mit ihren behinderten Kinder geschieht. „Wir versuchen nach Kräften Auskunft zu geben, aber vieles wissen wir einfach noch nicht“, sagt Retter. Das Ehrenamt neben dem Hauptberuf erschwert eine verstärkte Informationsarbeit zusätzlich. Für die Elterndachorganisation stellt sich noch ein anderes, existenzielles Problem: Wenn die Schulen ihren Elternvertreter wählen, was bedeutet das für die rund 80 Elternvereinigungen im Land? „Wir ermuntern unsere Mitglieder, sich in die Elternkomitees zu melden“, so Retter. Bloß:  Was werden sie dort mitbestimmen können? Und welche Mittel stehen ihnen zur Verfügung? Retter sorgt sich überdies um die Kontinuität der Arbeit: Anders als das Lehrerkomitee, das für fünf Jahre gewählt wird, wählen die Eltern ihre Vertretungen für zwei Jahre. Die Wahl ist für den 15. Oktober vorgesehen.

Für viel Aufregung und Verunsicherung sowohl bei Lehrern als auch bei Eltern sorgt darüber hinaus die geplante neue Beurteilungskultur. Seit Wochen machen unterschiedliche, sich teils widersprechende Informationen und Gerüchte über die geplanten Bilans intermédiaires und Bilans de fin de cycle die Runde. Anders als die herkömmlichen, auf 60 Punkten basierenden Zeugnisse dokumentieren die neuen Bewertungsbögen den Lernprozess eines jeden Schülers entlang von kompetenzorientierten Skalen: Der Schüler respektive seine Eltern soll an ihnen ablesen, was für Lernfortschritte er oder sie während des zweijährigen Lernzyklus erzielt hat. Im Gespräch zwischen Kind, Eltern und Klassenlehrer/in wird der Bilan besprochen, Grundlage bilden das Portfolio, Kompetenztests sowie die Beobachtungen der Lehrperson. Die neue Bewertungsform wird seit zwei Jahren im Norden im Rahmen eines Großversuchs getestet, auch die Écoles en mouvement arbeiten daran – nur wissen das die wenigsten Eltern. Denn diesbezügliche Informationen fließen spärlich; und ab nächster Woche sind Schulferien. 

„Wir wollten erst einmal die Beratungen mit den Lehrern abschließen“, sagt Pressesprecherin Myriam Bamberg dem Land  über den Informationsmangel. Seit über einem Jahr wird im Ministerium an dem neuen Bewertungssystem gefeilt, treffen sich Arbeitsgruppen und Inspektoren, um über die Evaluation und damit verbundenen Lehrmethoden zu beraten. Ihre Erkenntnisse sind in einen ersten Prototyp eingeflossen, der den Inspektoren derzeit zur Begutachtung vorliegt. Am Dienstag, den 14. Juli sollen die designierten Präsidenten der Schulkomitees das Instrument vorgestellt und erläutert bekommen. Theoretisch sind sie – und die Inspektoren – dafür verantwortlich, diese Informationen danach an die Eltern weiterzuleiten. 

„Wir kommunizieren phasenweise an die betroffenen Gruppen“, erläutert Bamberg die ministerielle Kommunikationsstrategie. Weil Lehrer erst lernen müssen, mit den neuen Instrumenten umzugehen, die Eltern mit dem Bilan des compétences aber erst im Dezember, am Ende des ersten Trimesters, konfrontiert seien, habe man entschieden, zunächst die Lehrer zu briefen. Dabei unterschätzt das Ministerium offenbar, wie schnell Nachrichten im kleinen Luxemburg die Runde machen – mit dem Risiko, dass Eltern sich verzerrte oder gänzlich falsche Bilder vom neuen Instrument machen. Wer sich ein wenig umhört, erfährt, dass die neue Evaluation schon jetzt heiß debattiertes Gesprächsthema Nr. 1 sowohl bei Eltern als bei Lehrern ist. Für Bewohner im Norden des Landes, die erste Erfahrungen mit der neuen Bewertungsform sammeln konnten, wird die Umstellung wohl einigermaßen unproblematisch über die Bühne gehen. Schwieriger dürfte es in Gemeinden werden, deren Schulen noch gar nicht oder nur ansatzweise mit der Lernprozessdokumentation arbeiten. „Was bedeutet das für mein Kind, wenn es an einen Lehrer gerät, der mit der neuen Bewertungsform nichts anfangen kann und sie sich erst mühsam aneignen muss, fragt eine besorgte Mutter. Zumal es mit einer anderen Evaluation nicht getan ist: Auch in punkto differenzierte Unterrichtsmethoden müssen etliche Lehrer dazulernen.

Bei so komplexen Fragen und einer „Joerhonnert“-Reform, die mehrere Tausend Lehrer, Kinder und Eltern betrifft, ist es umso erstaunlicher, dass das Ministerium in Sachen Kommunikation wenig Neues zu bieten hat: Da werden die klassischen Circulaires verschickt, als liefe alles wie gehabt. Auf der Internetseite stehen langatmige Erläuterungen und Ausführungsbestimmungen, aber anschauliches Infomaterial oder Best practices sind nicht zu finden. Immerhin: Der Edunews-Infoletter zum Thema Evaluation wurde laut Ministerium rund 20 000 Mal angeklickt. Doch statt dem Hunger nach Informationen mit modernsten, leichter zugänglichen und besser lesbaren Kommunikationsformen zu begegnen, ist die Strategie die alte. Es wurden keine zusätzlichen PR-Experten eingestellt, eine Steuerungsgruppe soll die diversen Informationen zwar bündeln und für ihre Weitergabe sorgen, aber selbst Script-Direktor Michel Lanners gibt zu: „Wir haben bei der internen Koordination noch Nachholbedarf.“ 

Die letzte Pressekonferenz zur Grundschulreform ist Monate her; dafür lädt Mady Delvaux-Stehres Journalisten ein, um mit dem tunesischen Staatssekretär für Bildung über eine Kooperation in Sachen Schule der zweiten Chancen zu plaudern. Dabei wären mehr Transparenz und eine gebündelte und vor allem rechtzeitige Informationspolitik über alle Details noch vor den Schulferien geboten. Es gibt keine Internet-Plattform, die aktuelle Fortschritte dokumentiert. Auch den Zeitplan, wann welche Instrumente  von Bilan intermédiare bis Plan de réussite – vorgestellt werden, kennen bislang nur Eingeweihte. Am 16. Juli treffen sich diverse Arbeitsgruppen im Ministerium um über Bildungsstandards – Grundlage für eine kompetenzorientierte Bewertung – und den seit Mai völlig in den Hintergrund geratenen Aktionsplan Sprachenunterricht zu beraten. Auf dem Schulpräsidententreffen am 14. Juli sollen der Bilan intermédiaire und erste Erkenntnisse der Écoles en mouvement vorgestellt werden. Auch ein Entwurf für einen für September geplanten Leitfaden zum Plan de réussite scolaire ist in Arbeit. Der Plan, den alle Schulen ab 2010/2011 erstellen sollen, legt schulspezifische Ziele und Leitlinien fest. Im Zeitalter von Nachrichtenblogs und Newsticker wäre es ein Leichtes, all diese Neuerungen zeitnah einem sichtlich nervöser werdenden Publikum mitzuteilen. Warum nicht unter www.schoulreform.lu alle Infos über Travail en équipe, Plan de réussite scolaire, Agence de qualité, Bilan des compétences, Équipes multiprofessionnelles usw. für Eltern und Lehrer gebündelt zugänglich machen und so zeigen, dass die Reformen weitergehen? Via TV-Spots und Radio hätte die Adresse der Öffentlichkeit schon vor Monaten mitgeteilt werden können. Wie sehr eine lückenhafte Kommunikation über Erfolg oder Misserfolg selbst von politisch erstrebenswerten Reformen entscheiden können, zeigt das Beispiel der unbeliebten Autosteuer, die den sozialistischen Verkehrsminister Lucien Lux möglicherweise das Amt kosten wird.

Aber vielleicht traut sich das Ministerium nicht, seine zögerliche Kommunikationsstrategie aufzugeben, weil Offenheit auch zu Kritik einlädt. Der kompetenzbasierte Bilan vermag wohl besser den Lernprozess eines Schülers abzubilden als ein anhand von punktuellen Tests errechneter Notendurchschnitt. Doch was sagen Bewertungen wie „exzellent“ und positiv klingende Textzensuren wirklich aus und was geschieht mit Schülern, die trotz aller Bemühungen binnen eines Jahres kaum Lernfortschritte machen? 

Das sind Fragen, auf die Eltern und Lehrer zu Recht Antworten verlangen. Nicht erst im Dezember, wenn die ersten Bewertungen im zweiten Zyklus (erste und zweite Jahrgangsstufe) erfolgen (die Umstellung von Zyklus 3 und 4 ist ein Jahr später geplant). Denn dann ist es zu spät, um das komplexe System mit der nötigen Ruhe und Gelassenheit zu erklären. Ein gemeinsamer Widerstand von verunsicherten Eltern, Lehrern oder Gemeinden aber könnte den Reformern im Unterrichtsministerium spätestens bei  den Gemeindewahlen 2011 noch ein böses Erwachen bescheren. 

Ines Kurschat
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