Einst gab es nur eine Zehka - die war in der Stadt

Episches Europa

d'Lëtzebuerger Land du 16.10.2015

Einst war die Welt, also Europa, viel einfacher, vielleicht langweiliger. Es war nicht dauernd was los, und wenn, dann war es weit weg und in Schwarzweiß. Eine EU gab es nicht, nur eine Zehka – die war in der Stadt. Europa war wunderbar übersichtlich. Das meiste Europa gab es praktischerweise gar nicht, es wurde Rostblock genannt und befand sich hinter einem eisernen Vorhang, der nie gelüpft wurde und in dem Betonköpfe das Sagen hatten, so ging die Sage. Manchmal wurde zwar gemunkelt, einer würde eine Atombombe schmeißen oder auf einen Knopf drücken, aber dann war doch nur Rechenprüfung. Herren in grauen Mänteln gingen zur Arbeit, immer zur gleichen Zeit, sie kamen zur gleichen Zeit nach Hause und bekamen sogar etwas zu essen. Ihre Frauen gaben ihnen das Essen, dann hatten sie wieder Migräne. Es gab noch Schweißflecken und nur zwei Geschlechter. Das reichte auch völlig. Das Freizeitangebot für die Kinder war auch nicht so verwirrend, außer Hölle gab es nicht viel.

Manchmal bestieg einer einen Eiffelturm oder schickte eine Ansichtskarte mit einem Männeken Piss oder einem Meer, in das die Sonne floss. Wer sich anschickte, sein Land zu verlassen, prallte auf kostümierte Herren, die ihre Nase überall hinein steckten, selbst in entlegenste, verwegenste Körpergebiete. Dafür befiel den Eindringling in fremdes Territorium aber ein knisterndes Gefühl von Abenteuer, er oder sie

bekam Geldscheine, die anders knisterten. Um dieses kostbare Gefühl zu erlangen, musste man keine stillen Ozeane überwinden, nur die Aareler Knippchen. Die einzigen Flüchtlinge, die unterwegs waren, waren die, die regelmäßig vor ihrem verregneten Alltag flüchteten. Endlose Autokarawanen stauten sich im August vor den kostümierten Herren, die den Eintritt zu den Ländern bewachten, in denen die Sonne herrschte. Die Herren hatten ihre grauen Mäntel in ihren Regenreichen zurückgelassen, sie trugen jetzt Tarzanbadehosen.

So hätte es ewig weiter gehen können. Leider jedoch wollten alle mit der Zeit gehen, von der allerdings kein Mensch weiß, wo sie genau hin will. Mauern und Zäune fielen um, die Hüttchen mit den strengen Herren wurden geschleift, Europa wurde groß, noch größer, die Länder immer winziger, mit umständlichen, kaum aus-sprechbaren Namen aus dem Geschichtsunterricht zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Alles wucherte zusammen und bröckelte zugleich auseinander, so dass immerzu Expert_innen den Europäer_innen Europa erklären mussten. Sie wussten nicht einmal mehr, wo es anfängt beziehungsweise aufhört – im European Song Contest trat Australien auf. Sie grübeln viel über sich selber nach, im Grübeln sind sie Weltmeister, darauf sind sie auch wieder stolz und pochen darauf, wie natürlich auch auf die Werte, die mittlerweile, alles spricht sich so schnell herum heutzutage, weltweit geliket werden.

Selbstverliebt und selbstkritisch, selbstverliebt in unsere Selbstkritik, ach, so sind sie nun mal, kreisen sie beziehungsweise wir um die Nabel unserer Welt, die schiefen und geraden Türme und die Kunstkonserven, Museen genannt. Alles easy, abgesehen mal von Arbeitslosigkeit und Rechtsbewegungen, von denen in den Medien ja ewig die Rede ist.

Aber dann, während wir durch die aufgeräumten Wohnzimmer der Kulturmetropolen schlurfen, in denen meistens keiner wohnt, nur die Kunst und das Kapital, ab und zu einen Cappuccino schlürfen, fallen uns welche auf, sind das jetzt die, von denen dauernd die Rede ist? Sind sie wirklich schon hier, oder bilden wir uns das nur ein? Eben standen sie doch noch an einer Grenze, die es doch noch gibt, oder schon wieder gibt, oder wie jetzt? An einem Zaun, in einem Lager, meistens jedenfalls an einem Ort, an dem wir zufällig gerade nicht weilten, an der Peripherie. Die Menschen, die wir meinen, haben eine eher selten gesichtete Hautfarbe, die Haut von Menschen, die extrem lange an der frischen Luft waren. Sie haben etwas Verlorenes an sich. Als hätten sie hier nichts verloren.

Und auch nichts zu suchen, knurren die Hassknechte. Sind das jetzt die, die uns, Schluck, verändern, sie können nicht mal gendern, fragt sich die kleine Frau auf der Straße und in der Disko oder vor der Computerin. Und die Denker_innen zermartern sich das Hirn: Werden sie wir und wir sie und wer ist eigentlich wir?

Europa sucht sich mal wieder, und erfindet sich.

Michèle Thoma
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