Grundschulreform

Implosionsgefahr

d'Lëtzebuerger Land du 06.11.2008

Eine ruhige Landung sieht anders aus. Als Unterrichtsministerin Mady Delvaux-Stehres (LSAP) am 29. Oktober von ihrer Reise aus der Mongolei zurückkam, hatten sie die aufgeregten Nachrichten schon erreicht. Gar nicht gut war in der zuständigen Parlamentskommission die Entscheidung des Ministeriums angekommen, das Paket zur Grundschulreform aufzuschnüren. Durch eine simple Mail erfuhren die Volksvertreter vor der Sitzung am letzten Oktobermittwoch, dass die Regierung ihr Versprechen, alle drei Gesetze, Personal, Rahmengesetz und das Gesetz zur Schulpflicht, zusammen durchzubringen, nicht einhalten wird.

Weil das Staatsratgutachten zum Personalgesetz noch nicht da ist, sollenun der pädagogische Teil vorrangig gestimmt werden. Mit ein paar Änderungen, damit keine Rechtslücke beim im Winter stattfindenden Concours für den Lehrernachwuchs entsteht.

„Eine einfache Sache“, wie es sie schon öfters gegeben habe, findet Siggy Koenig, Erster Regierungsberater im Unterrichtsministerium– eine glatte Fehleinschätzung, wenn man die politischen Reaktionen betrachtet.

Die Grünen schossen als erste und mokierten sich in einer Pressemitteilung über die zerstückelte „Jahrhundertreform“. Sie warfen der Ministerin vor, nicht nur inhaltlich, sondern nun auch beim Gesetzgebungsverfahren inkohärent zu sein. Auch der liberale Abgeordnete Eugène Berger, grundsätzlich Befürworter der Reform,sieht „ungeschicktes Handling“ amWerk. „Der pädagogische Teil unddas Personalgesetz hängen über die tâche eng zusammen. Ich glaubenicht, dass man das so einfach trennen kann.“ Der Lohnkompromiss sollnun in Form eines Amendement nachgereicht werden. Sogar Jos Scheuer, LSAP-Parteikollege und Präsident der Parlamentskommission, konnte seine Empörung über „den schlechten Stil“ seitens des Ministeriums nicht verbergen. So lapidar könne man eine sowichtige Verfahrensänderung nicht mitteilen, soll er während der Sitzunggeschimpft haben. 

Es ist aber nicht nur eine Frage der Präsentation. Schon im Frühjahr wurden in der Kommission Zweifel laut, ob es noch realistisch sei, das Gesetzespaket als Ganzes bis Ende des Jahres verabschieden zu wollen. Die Gehälterverhandlungen zwischen Regierung und Lehrergewerkschaften, deren Abschluss ursprünglich für Juli geplant war, zogen sich bis nach den Sommerferien hin und bremsten die Beratungen zum Personalgesetz. Spätestens als im September das zur Sommerpause erwartete Staatsratsgutachten zum Personalgesetz noch immer nicht vorlag, sei, so Berger, allen Beteiligten klar gewesen: Der Zeitrahmen war nicht mehr einzuhalten.

Zumal heikle Fragen unbeantwortet sind. Etwa, ob die Nominierung desLehrpersonals durch den Staat gesetzeskonform ist und nicht doch demverfassungsrechtlichen Prinzip der Gemeindeautonomiewiderspricht.Und welches die Kriterien sind, nach denen der Staat zusätzliches Personal an bedürftige Gemeinden vergeben würde. Über den Gemeindeverbund Syvicol hatten sich besonders sozialistischeGemeindevertreter kritisch bis ablehnend über die geplante Zentralisierung der Personalpolitik geäußert.

Alle diese Fragen sollten gebündelt dem Staatsrat überreicht werden, eine entsprechende Liste wurde vom sozialistischen Kommissionspräsidenten jedoch nie abgeschickt. Ein primaEinfallstor für die Opposition, die nun der LSAP – und ihrer Ministerin – die Schuld am momentanen Stillstand gibt. Und als wäre das nicht genug, mehren sich auch in den sozialistischen Reihen skeptische Stimmen, ob es das Personalgesetz überhaupt vor den Parlamentswahlen durchs Plenum schaffen kann. Das wäre dann der Super-Gau, der größte anzunehmende Unfall für die ehrgeizige Ministerin. Denn das neue Grundschulgesetz ist nicht nur eineder größten gesellschaftspolitischen Reformen dieser Legislaturperiode,sondern zudem extrem wichtig für die LSAP: Ihre Glaubwürdigkeit als reformerische Kraft für mehr Gerechtigkeit würde ein weiteres Mal Schaden nehmen – nach der Abschaffung der automatischen Indexanpassung 2006.

Oder wie es Eugène Berger von der DP ausdrückt: „An dieser Bewährungsprobe werden die Ministerin und ihre Partei gemessen.“ Siggy Koenig aus dem Ministerium versucht, die Zweifel zu zerstreuen: „Wir gehen absolut davon aus, dass das Personalgesetz zwei, drei Monate nach dem Rahmengesetz verabschiedet wird.“ Das wäregegen Ende dieser Legislaturperiode.

Wenn alles glatt geht. Nur sieht es derzeit eher so aus, als gelte für die Bildungspolitik Murphys Gesetz. Denn das verpatzte Timing beim Gesetzesverfahren ist nicht die einzige selbst verschuldete Krise. Viel Aufregung gibt es gerade um die Standardtests, die vor zweiWochen in sämtlichen dritten Klassen der Primärschulen sowie in allenfünften und neunten Klassen der Sekundarschulen durchgeführtwurden. Wie eine Art Mini-Pisa beziehungsweise Mini-Pirls sollen dieTests in den Kernfächern Deutsch und Mathe (im Sekundärbereichauch Französisch) eine tiefere Reflexion des Luxemburger Schulsystemserlauben; dieses Mal auf der Basis eigener, auf die LuxemburgerSprachensituation zugeschnittener Kompetenzniveaus.

Ein komplexes und ambitiöses Unterfangen, das aufgrund von Fehlplanungen und massiver Proteste seitens der Lehrer zu scheitern droht. Der lautstarke Vorwurf des OGBL-Berufssyndikats SEW, die Lehrer seien nicht in die Vorbereitungen des Tests einbezogenworden, ist zwar falsch. Tatsächlich hatte die Uni Luxemburg,die im Auftrag des Unterrichtsministeriums die Testreihen ausgearbeitethat und durchführt, im vergangenen Jahr händeringend Freiwillige gesucht, um die nötigen Items für die Tests vorzubereiten. Weil zwischenzeitlich weitere Lehrer auf den Zug aufsprangen, wurde die komplizierte Arbeitsteilung zwischen Universität, Ministerium und Schulen noch unübersichtlicher. 

Erfahrene geschulte Helfer trafen auf solche, die von „offenen“oder „geschlossenen Items“ kaum gehört hatten; getreu der Weisheit„viele Köcheverderben den Brei“. Abgabetermine wurden überschritten– mit dem Ergebnis, dass nur ein kleiner Teil der Items in so genanntenPretests auf ihre Tauglichkeit getestet werden konnten.

Erschwerend kam hinzu, dass vor allem bei den Sekundarschullehrerndie Stimmung schon angespannt war. Gäbe es wöchentliche Politiker-Umfragen – Mady Delvaux-Stehres’ Werte dürften spätestens in den letzten zwei Wochen rasant in den Keller gerutscht sein. Durch den ungewohnten Blick von außen und den Änderungsdruck stark verunsichert, brachten die kritischen Ergebnisse der Studie La place de l’école dans la société luxembourgeoise de demain (d’Land, 17.September 2008) bei manchen das Fass endgültig zum Überlaufen. Dem Forscherteam um Pisa-Koordinator Romain Martin wurde vorgeworfen,Stimmung gegen die Lehrer zu machen – dabei hatten die Wissenschaftler nur das wiedergegeben, was Lehrer in den Befragungen selbst gesagt hatten. Ein schlechter Start für die dringend benötigte Zusammenarbeit zwischen Uni und Schulen. Als dann auch noch technische Probleme auftraten, war das für den noch über seineNiederlage in punkto Lehrerstreik erzürnten SEW die willkommene Gelegenheit, um aus vollen Rohren gegen die Tests zu schießen. Nebendem erhöhten Arbeitsaufwand wehrte sich die Gewerkschaft dagegen,dass deren Ergebnisse „keinerlei Impakt“ auf die Zeugnisse der Schülerhaben würde und deshalb die Korrektur der Tests „ohne jeglichen formativen Wert“ sei.

Leider hat die Gewerkschaft jedoch übersehen, dass Sinn und Zweckder Standardtests gar nicht der ist, den Schülern eine Rückmeldungüber ihre Leistungen zu geben. „Das wurde den Lehrern nie erklärt“,sagte SEW-Vizepräsident Guy Foetz dem Land. Auch das stimmt so nicht: Im Sommer bekamen sämtliche Lehrer eine ausführliche Erklärung,was es mit den neuen Tests auf sich hat. Schriftlich. Aber selbst gut informierte Lehrer tun sich schwer, den Unterschied zwischen altenépreuves communes und neuen épreuves standardisées zu erkennen. Die 2002 gegen großen Widerstand eingeführten épreuves communes haben viele Lehrer nun, fünf Jahre später, als wichtige Stütze zur Bewertung ihrer Schüler zu schätzen gelernt. Zum Systemmonitoring, wie es das Unterrichtsministerium gerne einführen will, taugen sie jedoch nicht. Weshalb die alten Tests sukzessive durch die Standardtests ersetzt werden sollen.

„Die épreuves communes setzen beim einzelnen Schüler an, die épreuves standardisées geben Auskunft darüber, wo eine Schule, ein Klasse im Vergleich zum Landesdurchschnitt steht. Sie sollen einschätzen helfen, wie gut die Umstellung auf Kompetenzen tatsächlich gelingt, erklärt Testleiter Romain Martin. Die épreuves communes könnten in diesem Sinne gar kontraproduktiv sein: Einne „Testeritis“ will das Ministerium unbedingt vermeiden, zudem binden die Prüfungen Personalressourcen, die dringend an anderer Stelle gebraucht werden. Anstatt nun diesen wichtigen Wechsel für alle verständlich zu erklären, beließ es das Ministerium bei einer Rundmail im Juni und einem Briefing der Direktoren.

Auch die Sondernummer des Courrier de l’éducation nationale hilft Laien nur bedingt: In Zur Steuerung des Luxemburger Bildungswesens wird in schwerfälligem Soziologendeutsch erklärt, wie Lernstandserhebungen und Qualitätssteuerung zusammenhängen.Offen bleibt aber, was das für Luxemburg heißt und wie der Prozess im Einzelnen abläuft. So dass der Unmut mancher Lehrer nachvollziehbarist: Warum etwas, das sich in der Praxis bewährt hat, aufgeben, wenn das Neue mit so vielen Unsicherheiten verbunden ist?

Auch das für den 19. November versprochene Kurz-Feedback dürfte die aufgebrachten Gemüter kaum abkühlen. Zum einen ist unklar, ob diegesammelten Daten bis dahin aufgearbeitet sein werden; die vier Statistiker an der Uni arbeiten schon jetzt am Limit. Zum anderen soll auch dieses Feedback wieder nur per Internet erfolgen. Ob aber alle Lehrer mit solchen Tabellen etwas anzufangen wissen, darf bezweifelt werden.„Wenn wir die Lehrer nicht gewinnen, wäre der Sinn der Untersuchung verfehlt“, warnt Romain Martin, der von einer „kritischen Phase“ für das Bildungsmonitoring spricht. Im Januar soll es ein ausführlicheres Feedback geben, aber dessen Ablauf steht noch in denSternen: Die angekündigte Qualitätsagentur, die die Kommunikation derStatistiken übernehmen soll, befindet sich erst im Aufbau. Nächster Ärger vorprogrammiert.

So bleibt als erstes Fazit, dass sowohl das Ministerium als auch die Uni Umfang und Komplexität der Einführung eines nationalen Bildungsmonitorings unterschätzt haben – und nun Gefahr laufen, durch schlechte Organisation und überforderte Lehrer das teure Unternehmen selbst zu diskreditieren. 

Das als „Kinderkrankheiten einer Pilotphase“ abzutun, kann sichdas Ministerium aber nicht leisten. Ohne externe Kontrolle machen socles des compétences und Grundschulgesetzreform wenig Sinn. Schulentwicklung und Monitoring gehören zusammen. Indem es wichtige Informationen über den Lernstand ganzer Klassen und Schulen zusammenführt, hilft es, das System Schule besser zu verstehen, zu reflektieren, wo nachgebessert, wo gefördert werden muss. Daszu vermitteln, ist Aufgabe des Ministeriums. Eine Rundmail und eine Broschüre reichen nicht. Da hilft nur schonungslose Selbstkritik–und bessere Planung. Wie schwierig und wie wichtig es ist, speziell dieLehrer für die „output-orientierte“ Schulsteuerung zu gewinnen, hättendie Luxemburger Verantwortlichen eigentlich von ihren ausländischenBeratern wissen können. Lehrkräfte haben nun mal zunächst ihren Unterricht und ihre Klasse vor Augen – und keine „Bildungsstandards“.Das Ministerium hat im Rahmen des Sprachenaktionsplans damit begonnen, Projektplanung und Kommunikation zu professionalisieren und dafür sogar externe Berater hinzugezogen.

Aber offenbar fällt die Umstellung schwerer als gedacht. Bislang hat die Opposition keine schweren Geschütze aufgefahren, die Kritikhält sich in Grenzen; wohl weil auch niemand so recht eine Alternativezum eingeschlagenen Reformkurs weiß. Aber noch mehr solcher Pannenund mit dem zerbrechlichen politischen Burgfrieden und der Aufbruchstimmung einiger reformwilliger Lehrer ist es schnell wiedervorbei. Der Gedanke müsste Ansporn genug sein: Diese historische Chance zu grundlegenden Schulreformen bekommt die Unterrichtsministerin vielleicht nicht wieder.

 

Ines Kurschat
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