Das Sparpaket vom Frühjahr ist noch nicht in Kraft, da soll im Herbst das nächste folgen

Ungebändigtes Staatsdefizit

d'Lëtzebuerger Land vom 27.07.2012

Am Freitag stellte Finanzminister Luc Frieden (CSV) dem Finanz- und Haushaltsausschuss des Parlaments sowie der Presse die ersten Zahlen über die Lage der Staatsfinanzen im ersten Halbjahr 2012 vor. Er wusste nicht so recht, was er von dieser Entwicklung halten sollte. Sie sei zwar „auf einer Linie mit dem vorgelegten Staatshaushalt“. Aber gleichzeitig sei sie „nicht total zufriedenstellend“, es „gelingt uns einfach nicht, das Defizit zu verringern“. Zum einen war der Minister versucht, seine Zahlen schönzureden, um alle Zweifel an seinem Talent als oberster Finanzpolitiker der Nation zu zerstreuen. Zum anderen musste er die Öffentlichkeit von der Notwendigkeit weiterer Sparmaßnahmen überzeugen, um dem Ziel ausgeglichener Staatsfinanzen bis zum Ende der Legislaturperiode näher zu kommen.
Die Wahrheit ist, dass die Regierung ziemlich ratlos ist. Die Entwicklung der Staatsfinanzen sei im ersten Halbjahr  „konform zu den schlechten Perspektiven für 2012“ gewesen, meinte Frieden am Freitag. Doch im Vergleich zum Haushalt geht die Schere auseinander: Gegenüber dem ersten Halbjahr 2011 stagnierten die Einnahmen und die Ausgaben stiegen schneller als im Haushalt für das ganze Jahr erwartet. Dabei hatte Premier Jean-Claude Juncker (CSV) in seiner Erklärung zur Lage der Nation vor zwei Monaten Entwarnung gegeben.
Der Staatshaushalt sieht für das ganze Jahr 2012 eine Zunahme der Einnahmen um 4,9 Prozent vor. Doch im ersten Halbjahr stiegen sie lediglich um 0,4 Prozent. Vor allem die Einnahmen aus der Körperschaftssteuer lagen um 126,6 Millionen Euro und die aus der Taxe d’abonnement um 24,7 Millionen Euro unter denjenigen des ersten Halbjahrs 2011. Allerdings ist der Schein teilweise trügerisch. Denn der Statec erinnert in seiner Konjunkturnote daran, dass im Vergleichshalbjahr 2011 die Einnahmen aus der Körperschaftssteuer überdurchschnittlich hoch waren, weil das Steueramt bedeutende Rückstände eingetrieben hatte.
Dagegen war eine Zunahme der Ausgaben um 6,1 Prozent für das ganze Jahr 2012 vorgesehen. Aber im ersten Halbjahr stiegen die Ausgaben um 8,5 Prozent. Der raschere Anstieg der Ausgaben sei „keine Entgleisung“, meinte Frieden, sondern das Ergebnis der gesetzlichen Sozialtransfers, der um 42 Millionen Euro gestiegenen Investitionen sowie der Gehälterentwicklung im öffentlichen Dienst.
Dabei schloss das vergangene Jahr noch deutlich besser ab, als erwartet. Aus den soeben im Parlament deponierten Konten des Haushaltsjahrs 2011 geht hervor, dass die Zentralverwaltung vergangenes Jahr ein Defizit von 992,2 Millionen Euro oder 2,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verbuchte. Im Staatshaushalt für 2011 war ein Defizit von 1 401,2 Millionen Euro oder 3,4 Prozent des BIP vorgesehen.
Im ersten Halbjahr 2011 hatte die Zentralverwaltung noch einen Überschuss von 77,9 Millionen Euro verbucht. Aber im ersten Halbjahr 2012 ist daraus nun ein Defizit von 415,4 Millionen Euro geworden. Weil, anders als erwartet, die Einnahmen stagnierten und die Ausgaben bisher schneller stiegen als für das ganze Jahr geplant, droht das Staatsdefizit dieses Jahr nicht die im Haushalt erwarteten 1 143,2 Millionen Euro auszumachen, sondern könnte anderthalb Milliarden erreichen. Die Differenz könnte also einem Großteil der 535 Millionen Euro entsprechen, um welche die Regierung mit ihrem im Frühjahr angekündigten Sparpaket das Defizit jährlich verringern wollte.
Zu allem Überfluss kündigte die US-amerikanische Rating-Firma Moody’s am Montag auch noch an, die Bewertung der Luxemburger Staatsschuld – wie auch der deutschen und der niederländischen – von Aaa mit stabiler Aussicht auf Aaa mit negativer Aussicht herabzustufen. Was bedeutet, dass die Firma nicht ausschließt, die Staatsschuld in einigen Wochen oder Monaten von Aaa auf Aa1 oder tiefer herabzustufen, weil das Risiko für Käufer Luxemburger Staatsanleihen zunehme, dass sie Kapital und Zinsen nicht, wie abgemacht, zurückerhalten.
Als Begründung für die pessimistische Aussicht führt die Firma die erneute Verschärfung der Eurokrise und die zunehmende Wahrscheinlichkeit an, dass Griechenland die gemeinsame Währung aufgibt. Dies könne zu einem Schock für den Luxemburger Finanzplatz und die gesamte Volkswirtschaft sowie dazu führen, dass der Staat mehr Geld für die Stützung des Euro-Systems ausgeben muss, beziehungsweise nicht mehr alles wiedersieht.
Als Standard and Poor’s im Januar Frankreich herabgestuft hatte, war Luc Frieden um so stolzer auf Luxemburgs AAA. Es gehöre zu den „vier Ländern in der Eurozone, welche die beste Qualitätsbewertung, den Triple-A-Status haben“, betonte er in einem Rundfunkinterview. Denn „das ist ein ganz gutes Zeugnis für die Luxemburger Finanzpolitik. Wir haben vieles getan, damit das so bleiben soll“. Drei Monate zuvor hatte er schon dem Parlament erklärt, das sei „nicht irgendeine abstrakte Notierung. Wenn man die nicht bekommt, dann hat man in Zukunft viel größere Schwierigkeiten, um Geld zu leihen, beziehungsweise heißt das, dass man die Steuern massiv erhöhen muss, um das Gleichgewicht zu halten“. Noch im März dieses Jahres hatte Friedens Schatzamtsdirektor Georges Heinrich betont, dass es „für Luxemburg von entscheidender Wichtigkeit ist, sein AAA-Statut zu behalten, um sich  zu günstigen Bedingungen zu finanzieren“.
Doch in Wirklichkeit bleibt der Luxemburger Schuldenstand einstweilen beneidenswert. Denn laut den diese Woche von Eurostat veröffentlichten Angaben belief sich am Ende des ersten Quartals 2012 die öffentliche Schuld Luxemburgs auf 20,9 Prozent des BIP und war damit die zweitniedrigste der Europäischen Union, nach Estland (6,6 Prozent). Gegenüber 81,6 Prozent in Deutschland, 89,2 Prozent in Frankreich, 101,8 Prozent in Bel­gien und 132,4 Prozent in Griechenland.
Trotzdem gelingt es der Regierung ohne soliden Konjunkturaufschwung nicht, die Enden zusammen zu bekommen. Dabei hatte Frieden wiederholt „eine neue Ausgabenkultur“ angekündigt und am Freitag sogar gemeint, „dass wir sie begonnen haben“. Doch in den Konten ist nicht viel davon zu merken. Weshalb nicht nur der Finanzminister, sondern am selben Tag auch sein Parteivorsitzender Michel Wolter und sein Frak­tionssprecher Marc Spautz sowie schon einen Tag zuvor LSAP-Fraktionssprecher Lucien Lux für den Herbst neue Sparmaßnahmen in Aussicht stellten.
Die Situation der Sparpakete beginnt aber, für den gemeinen Steuerzahler etwas unübersichtlich zu werden. Denn im Frühjahr kündigten Wirtschaftsminister Étienne Schneider (LSAP) und Finanzminister Luc Frieden (CSV) bereits ein ganzes Sparpaket für die Zeitspanne bis 2015 an. Aber bisher ist davon noch keine der Ankündigungen umgesetzt. Die Regierung verabschiedete lediglich vor 14 Tagen ein großherzogliches Reglement, um die Kinderbetreuung, die vor kurzem noch kostenlos werden sollte, wieder zu verteuern. Aber selbst dieses Reglement ist noch nicht in Kraft.
Die meisten Maßnahmen des Sparpakets sollen Ende des Jahres mit dem Haushaltsgesetz für 2013 verabschiedet werden. Allerdings meinte Frieden am Freitag, dass „wir im Herbst schauen müssen, ob sich die Lage verbessert hat“. Andernfalls soll ein neues Sparpaket beschlossen werden, um die wachsende Kluft zwischen Einnahmen und Ausgaben zu verringern. Dass dabei die Tripartite um ihre Meinung oder gar ihre Einwilligung gefragt werden könnte, erwähnte der Minister nicht. Jedenfalls bedeutete dies, dass das neue Sparpaket beschlossen würde, bevor das alte in Kraft ist. Die Situation erinnert etwas an die Einführung der Krisensteuer, die nach bloß einem Jahr wieder abgeschafft wurde und ein Jahr später als Erhöhung der Solidaritätssteuer wieder auferstand.
Der Finanzminister hält weitere Sparpakete für nötig, um dem Ziel ausgeglichener Staatsfinanzen näher zu kommen – auch wenn das Ziel dabei ist, ziemlich unerreichbar zu werden. Dabei soll dieses Ziel nun auch Gesetz werden. Vor zwei Woche hinterlegte Luc Frieden den Gesetzentwurf zur Ratifizierung des am 2. März unterzeichneten Fiskalpakts, des Vertrags über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion, der binnen eines Jahrs die Einführung „vorzugsweise mit Verfassungsrang“ einer „Defizitbremse“ vorschreibt. Die Regierung beschloss, die „Defizitbremse“ nicht in die Verfassung einzuschreiben, sondern mit einer für Verfassungsänderungen vorgeschriebenen qualifizierten Mehrheit zum Gesetz zu machen. Auf Nachfrage erklärte Frieden am Freitag, dass er im Laufe des nächsten Jahres den seit Jahren versprochenen Gesetzentwurf zur Reform der Haushaltsprozedur einbringen wolle, in den auch die „Defizitbremse“ eingeschrieben werden soll. Was allerdings die Fragen aufwirft, ob das Parlament die ganze Haushaltsprozedur mit qualifizierter Mehrheit verabschieden muss und ob sie tatsächlich bis Ende nächsten Jahres in Kraft treten kann.
Haushaltsberichterstatter Lucien Lux hatte sich diese Woche mit Finanzminister Luc Frieden verabredet, um mit ihm über den Staatshaushalt für 2013 zu reden, dessen Entwurf am 2. Oktober 2012 im Parlament hinterlegt werden soll. Bei den Haushaltsdebatten am Jahresende, wenn in den Parteien bereits die Vorbereitungen für die Kammerwahlen laufen, geben sie das ideale Paar ab: hier der rechtsliberale Sparapostel der CSV, dort der ehemalige Gewerkschafter, der weiß, dass sich mit den nun wohl rasch folgenden Sparpaketen das Los der LSAP im Juni 2014 entscheiden wird.

Romain Hilgert
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