Werteunterricht

Machtkalkül

d'Lëtzebuerger Land vom 25.10.2007

Es war eine Minderheitsmeinung. Als sich der Staatsrat im März 1968 mit dem Gesetz zur Einführung des laizistischen Moralunterrichts befasste, stellten zwei Mitglieder des Hohen Rates die Grundsatzfrage: Eine rein katholische Werteerziehung dürfe es in der öffentlichen Schule eigentlich nicht geben, sie müsse sich an die Kinder aller Glaubensrichtungen wenden. 40 Jahre später existiert der katholische Religionsunterricht noch immer – und auch der erbitterte Streit um ihn.

Die düsteren Prophezeiungen, neue Glaubensgemeinschaften könnten nach ihrer staatlichen Anerkennung in Lehrpläne drängen, haben sich zwar nicht bewahrheitet. Doch mit der Konvention, die die CSV-LSAP-Regierung mit der islamischen Glaubensgemeinschaftabschließen will, erhalten sie neuen Auftrieb ( d’Land, 13.07.07).

Das Thema Religionsunterricht habe „keine Priorität“, beschwichtigt der Enrico Boaretto, Präsident der konstituierenden Vollversammlung aller Muslime in Luxemburg. Das sei eine Entscheidung, die „zunächst das demokratisch legitimierte Parlament“ zu treffen habe. Auf die Frage, ob er persönlich einen überkonfessionellen Werteunterricht für alle oder einen Koranunterricht in der öffentlichen Schule befürworte, antwortetBoaretto ausweichend: „Wenn wir offizielle Pflichten haben, werdenwir sicher auch über unsere Rechte diskutieren wollen.“ Dazu gehörtschon aus anti-diskriminatorischen Gründen das Recht auf einen eigenen Religionsunterricht. 

Vor eine wachsenden Einflussnahme religiöser Eiferer auf die Bildung warnt auch der Europarat – und gemeint sind nicht nur islamische Fundamentalisten. Die Straßburger Parlamentarier stimmten vorige Woche einen Bericht der Luxemburgerin Anne Brasseur über Die Gefahren des Kreationismus. Darin kritisieren sie die Ausbreitung kreationistischen Gedankenguts an europäischen Schulen und betonen die Bedeutung der Wissenschaft. Der von ultra-rechten Christen in den USA angezettelte Streit um Gott und Darwin ist nunmehr in Europa angekommen. In einer anderen Empfehlung vom Juni bekräftigte dieselbe Versammlung die Trennung von Kirche und Staat als „gemeinsamen europäischen Wert“. Zum Thema Erziehung und Religion hält das Gremium unmissverständlich fest, dass „la religion de chacun, y inclus l’option de ne pas avoir de religion, relève du domaine strictement privé“. 

Anders als der entschärfte Brasseursche Kreationismus-Bericht (der Vorgängertext wurde von den Christlich-Konservativen abgeschmettert), wurde die Empfehlung zum Verhältnis von Staat, Religion, Laizismus und Menschenrechte im Plenum einstimmig angenommen. 

Auf diese Entscheidung berufen sich deutsche und luxemburgische Pädagogen, wenn sie die Abschaffung des Religionsunterrichts und die Einführung eines obligatorischen überkonfessionellenWerteunterrichts für alle fordern. Multikulturalität, gewaltfreieKonfliktbewältigung, Partizipation und Demokratie sind Werte,für die sich der Europarat seit Jahren stark macht – und deren Verlust Lehrer, Pädagogen und Politiker vermehrt beklagen. „Wir erleben, dass verschiedene Schüler die grundlegenden Regeln des Zusammenlebens nicht beherrschen“, sorgt sich Manette Kayser, Mediatorin am Lycée Aline Mayrisch. 

In Berlin-Brandenburg haben Sozialdemokraten und Sozialisten deshalb einen „religiös und weltanschaulich neutralen Werteunterricht“  eingeführt, der für alle Schüler ab der 7. Klasse verpflichtend ist. Man könne keine pluralistische Gesellschaft wollen und zugleich Schüler unterschiedlicher religiöser und ethnischer Herkunft „just an diesem Punkt systematisch trennen“, so ein Sprecher der Schulbehörde. Ein Argument, das das Luxemburger Bündnis für eine Trennung von Staat und Kirche, sokrates.lu, ebenfalls ins Feld führt. Eine Rolle bei der Einführung des Werteunterrichts in Berlin-Brandenburg dürften auch leidvolle Erfahrungen mit dem Berliner Schulgesetz gespielt haben, das anerkannten Glaubensgemeinschaften, wie den christlichen Kirchen, große Freiheiten beim Religionsunterricht zugesteht: Der Versuch der Schulbehörden, den Koranunterricht der offiziell als Religionsgemeinschaft anerkannten konservativen IslamischenFörderation auf Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen, war vom Bundesverwaltungsgericht mit Hinweis auf eben jene Freiheiten abgeschmettert worden.Berliner Lehrer beklagen unterdessendie zunehmende Abschottung und Islamisierung türkischerJugendlicher. Nunsoll das Ethik-Pflichtfach helfen, den separatistischen Tendenzen entgegenzuwirken.

Wer auf den klassischen Religionsunterricht nicht verzichtenwill, kann diesen zusätzlich zum Ethikfach besuchen. Auf demEhtik-Stundenplanstehen praktische philosophische Erörterungen. Insbesondere die „interkulturelle Kompetenz“ und die „Fähigkeit zur Konfliktbewältigung“ der Jugendlichen sollen gestärkt werden. Für eine Zwischenbilanz ist es noch zu früh, den Kurs gibt es seit dem Herbst 2006, doch den Kirchen laufen die Schäfchen schon jetzt in Scharen davon. Der Anteil derjenigen, die früher den Religionsunterricht besuchten, ist um ein Viertel geschrumpft – weshalb Kirchenvertreter den Pflichtunterricht zum Teufel wünschen. Statt junge Menschen „zum staatlichen Ethikunterricht zu zwingen“, fordern sie die Möglichkeit, alternativ einen Werte vermittelnden Unterricht der Kirchen oder anderer Religionsgemeinschaften wählen zu können, wie das in anderen Bundesländern der Fall ist. Eine Verfassungsbeschwerde einer Schülerin und ihrer Eltern, die sich in ihrem Grundrecht der Religionsfreiheit verletzt sahen, wurde von den Karlsruher Richtern jedoch als unbegründet abgewiesen. Trotzdem lassen die Gegner nicht locker, sie sammeln jetzt Unterschriften für ein Volksbegehren. Die Befürworter dagegen applaudieren: Mit dem Vorstoß habe sich die rot-rote Berliner Regierung endlich getraut, das jahrhundertealte„Moralmonopol“ der Kirche aufzubrechen.

Luxemburg ist nicht Berlin-Brandenburg. Die LSAP hat alte Überzeugungen offenbar über Bord geworfen. Von einer strikten Trennung zwischen Kirche und Staat, wie noch im Grundsatzprogramm von 2002 gefordert, keine Spur. Ein einheitlicher Werteunterricht für alle sei gegen den übermächtigen christlich-sozialen Koalitionspartner nicht durchzusetzen, rechtfertigen Sozialisten wie Ben Fayot und Alex Bodry das zögerliche Auftreten ihrer Partei. Die ungleiche Machtbalance sei auch der Grund gewesen, warum der katholische Religionsunterricht beim neu aufgelegten Gesetzentwurf zur Primärschule gar nicht erst hinterfragt wurde, heißt es zudem parteiintern. Die LSAP vertröstet enttäuschte Mitglieder mit dem Pilotprojekt Neie Lycée. Nach dem Motto: Immerhin das habeman dem christlichen Koalitionspartnerabgetrotzt, vor einer landesweiten Einführung müsse es jedoch evaluiert werden. Vom beliebten Trick, auf Pilotprojekte auszuweichen, statt Grundsatzreformen durchzusetzen, mag auch die sozialistische Ministerin nicht lassen. „Es war nie die Rede von einer Evaluation“, wundert sich zudem Jeannot Medinger. Der Direktor des Neie Lycée hält die Werteerziehung, die für alle Schüler der Pilotschule verbindlich ist, „nicht für übertragbar“. Schließlich sei der Kurs nie mit dieser Zielsetzung konzipiert worden, sondern „Teil eines Ganzen“. Mit einer professionellen, überkonfessionellen Herangehensweise, wie sie Mitglieder der Programmkommission Formation morale et sociale fordern, hat die éducation aux valeurs des Neie Lycée nicht viel gemein.

Die Lehrer, die das Fach unterrichten, darunter auch Medinger, haben keine spezielle Ausbildung. Das würde keinen Sinn machen, ist Mathelehrer Medingerüberzeugt, „schließlich betrifft die Werteerziehung alle Lehrer gleichermaßen“.

Sollte das auch die Auffassung der Unterrichtsministerin sein, die neben dem Premierminister und Vertretern verschiedener Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen den Werteunterricht des Neie Lycée überwacht, erstaunt eine andere Tatsache umso mehr: Das Ministerium treibt gleichzeitig Bemühungen um einen überkonfessionellen professionalisierten Ethikunterricht aktiv voran. Ursprünglich geht die Initiative auf Delvaux' Vorgängerin, Anne Brasseur (DP), zurück. Um eine „echte, Alternative zum herkömmlichen Religionsunterricht“ zu schaffen und auch um Vorwürfen seitens von Schüler und Eltern zu begegnen, die Kinder würden in dem „Laberfach“ nichts lernen, erhielt die zuständige Programmkommission 2002 denAuftrag, Organisation und Lehrinhalte komplett zu überarbeiten. Menschenrechte und Demokratieerziehung, bitte schön, inklusive. Bei der Studie L’éducation à la citoyenneté à l’école en Europe von 2005 bildete Luxemburg trauriges Schlusslicht.

Vier Jahre später liegt ein Lehrplan vor, der sich in weiten Teilen an der praktischen Philosophie orientiert, wie sie in Nordrhein- Westfalen gelehrt wird. Ähnlich dem Berliner Ethikunterricht sollen die Schüler anhand von praktischen Beispielen Alltags- und Konfliktsituationen reflektieren lernen, kritisches Denken üben und über gesellschaftliche Fragen diskutieren. Fortbildungen und Bildungsstandards sollten dafür sorgen, dass alle Lehrer das gleiche Konzept unterrichten. Eine vom Script organisierte180-stündige Fortbildung wurde jedoch nach zwei Jahren wieder abgeschafft und durch kürzere Wochenendseminare ersetzt. Im November findet erstmalig ein Concours für die Formation morale et sociale statt. Von 15 Lehrern, die sich für den Test beworben haben, wurden sieben zugelassen. Bisher sind vier Plätze ausgeschrieben.

Anstatt nun beherzt auf die neuen Programme zurückzugreifen unddas verbesserte Konzept in eine Gesamtstrategie einzubetten, zögert die LSAP-Ministerin jedoch plötzlich. Auch den zunächst wohlwollend auf genommenen Vorschlag einiger engagierter Lehrer von Eis Schoul, einen überkonfessionellen Werteunterricht für die Grundschule, als Versuch im Versuch, zu entwickeln, hat sie nicht zurückbehalten. Und das, obwohl einige CSV-Oberen, darunter Fraktionspräsident Michel Wolter, ihre Zustimmung bereits signalisiert hatten. Die Pläne seien zurückgezogen worden, „weil sie zu diesem Zeitpunkt nicht durchsetzbar sind“, heißt es aus dem Ministerium. Eine Entscheidung, die neben der Opposition auch einige LSAP-Abgeordnete so nicht stehen wollen. Die DP setzte am Donnerstag die Debatte um einen einheitlichen Werteunterricht kurzfristig auf die Tagesordnung der zuständigen Chamberkommission – mit ausdrücklicher Unterstützung des sozialistischen Präsidenten. „Der Zeitpunkt ist gekommen, um das Thema endlich ernsthaft zu diskutieren“, sagt Jos Scheuer kämpferisch.

Diskutiert wurde in der Vergangenheit allerdings schon oft, mit demErgebnis, dass es eine Trennung von Staat und Kirche in den Schulen nach wie vor nicht gibt. Sodass enttäuschte Sozialisten mutmaßen, bei den jüngsten Vorschlägen handele es sich um vorgeschobene Manöver. Die Parteispitze wolle „vom eigenen mangelnden Mut ablenken“ und „die Schuld an der verpassten Gelegenheit, dem Koalitionspartner zuschieben“, unkt ein Parteimitglied.

Die Einschätzung ist nicht aus der Luft gegriffen. Die Regierung scheint fest entschlossen, die Wertedebatte ein weiteres Mal aussitzen zu wollen. So wie 1968. Auf die parlamentarische Anfrage der DP, ob eine Konvention mit Luxemburgs Mulimen die Öffnung für den Koranunterricht in Luxemburgs Schulen bedeute, heißt es in der Antwort kurz und knapp, die Frage stelle sich derzeit nicht. Unterschrieben wurde sie in rot-schwarzer Eintracht von der Unterrichtsministerin Delvaux und dem Kultusminister François Biltgen. 

Ines Kurschat
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