Theater

Ich bin das Ungeheuer, das man brauchte

d'Lëtzebuerger Land vom 05.07.2019

Um die Gemäuer des Théâtre national flimmerte am Mittwochabend vergangener Woche die Hitze: Immer noch behaupten sich Werte über 30 Grad im Schatten. Im Publikum fächern sich fünf Damen lauwarme Luftstöße zu, während die Hochsommernacht vom 25. zum 26. August des Jahres 1346 auf die Bühne fällt. Es wird die letzte Nacht des luxemburgischen Nationalhelden und böhmischen Königs Johann der Blinde (1296-1346) sein. Er wird im Nahkampf fallen, Mann gegen Mann, in der Schlacht von Crécy.

Eine weitere Parallele drängt sich auf: An diesem Abend des 26. Juni 2019 beginnt in den USA das erste TV-Duell der Demokraten. Zehn Kandidaten feilschen um den richtigen Weg rechts oder links vorbei an jenem Narziss, der 2016 den Grundstein für eine neue nationalistische Weltordnung legte: Die Weltgemeinschaft als testosterongesteuertes Dealmaking. Zwei Drittel der Nacht vor Crécy von Dramatiker Rafael David Kohn sind vorbei, als sich Johann der Blinde und sein Sohn Karl IV. links an der Nebenbühne der Magd Sophie und Guillaume, dem Sekretär und Dichter, präsentieren. Zwei grundlegende Weltanschauungen werden in einem – etwas misslungen albernen – Theater im Theater zur Schau gestellt: ein TV-Duell mittelalterlicher Epochenwende. Der Richtungsstreit war damals brachialer, das Prinzip vergleichbar: Vernunft gegen Kampfesmut. Genau dort setzt Kohn seinen literarischen Schwerpunkt.

In dieser „Nacht vor Crécy“ lässt Johann der Blinde seine Herrschaft Revue passieren und lässt keinen Zweifel an seinen Idealen. Argwöhnisch, ja verachtungsvoll blickt er auf das eingeläutete Zeitalter der Vernunft. Das untergehende Stereotyp des Ritters, ja der Ritterlichkeit schlechthin ist das Bild, dem er einst seinen Stempel aufsetzte. Johann der Blinde kämpft vorneweg, verleibt sich Krone um Krone ein, Land um Land, geleitet vom Prinzip des Rechts des Stärkeren. Der Heldentod ist ihm eine ähnliche Maxime wie der Lorbeerkranz, der Schreibtischtäter bleibt ihm ein Gräuel. In den Kriegspausen schwört er aufs „Saufen und Ficken“, so seine Worte. So ficht er mit seinem verhassten Sohn, dem neu gekrönten deutsch-römischen König Karl IV., den erwähnten Richtungsstreit aus. Am Zwist zwischen Karl, dem Verfechter des diplomatischen Worts, und seinem hasserfüllten Kriegstreiber-Vater Johann wird die Zeitenwende zwischen Rittertum und Bürgerzeitalter deutlich.

Christoph Rasche zeichnet verantwortlich für diese Kulisse heimeliger Gemütlichkeit, in der eine verächtliche Fehde ausgetragen wird. An der offenen Feuerstelle betet die Magd Sophie zu Gott, er möge Johanns Armee dem Untergang weihen. Auf der Metalltreppe ringt der emotionale Dichter Guillaume angesichts seiner Zwangsrekrutierung um Fassung. Neben einem roten Benzinfass sitzt Johann auf der Vorderbühne, mit rötlich geschwollenen Tränensäcken auf dem schwarzen Ledersessel und blickt verächtlich und verloren in die Schatten seines Umfelds.

Marco Lorenzini liefert als Johann wohl eine seiner besseren darstellerischen Leistungen. Zum einen schafft er es mit den rötlich unterlaufenen Augen recht glaubwürdig, diesen typisch gebrochenen Blick eines Sehbehinderten zu mimen. Völlig blind, so die Historiker, sei Johann nicht gewesen. Der Zynismus seiner darwinistischen Weltsicht macht sich zudem in der Bestimmtheit seiner Bewegungen breit. Rhetorisch wird er dem Text von Kohn gerecht, weil der luxemburgische Akzent ihm in dieser Bühnenarbeit weniger im Wege steht. Mit Serge Wolf, Konstantin Rommelfangen und Anna Fatholahzadeh wirken die Nebenrollen jedoch blass in einem Huis-Clos, das alle Aufmerksamkeit auf die politische Hauptfigur richtet.

Regisseurin Jacqueline Posing-Van Dyck inszeniert mit der Farce des diesjährigen TNL-Hausautors Rafael David Kohn die kompakte Psychoanalyse eines Mannes, die zugleich Spiegelbild einer Zeitenwende ist: „Worüber haben (Vater und Sohn) gesprochen? (...) Hierüber kann man nur spekulieren, hier öffnet sich der Freiraum des Autors, den ich genüsslich ausgekostet habe“, so Kohn im Programmheft. Die Nacht vor Crécy unterhält mit bekömmlichen 60 Minuten auch bei Affenhitze. Die Farce kippt zwar an wenigen Stellen in schlichten Schwank um. Weitgehend jedoch wird das Publikum Zeuge einer atmosphärisch verdichteten und überzeichneten Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn, Alt und Neu.

Die Nacht vor Crécy ist ein dramaturgisches Zeugnis luxemburgisch-europäischer Geschichte über den Übergang von kriegsverherrlichender Barbarei in die zögerlichen Vorstufen aufklärerischer Vernunft.

Die Nacht vor Crécy von Rafael David Kohn; Regie: Jacqueline Posing-Van Dyck; Bühne: Christoph Rasche; Kostüme: Christoph Rasche und Denise Schumann; Musik: Michel Zeches; Regieassistenz: Patrick Gafron; Maske: Joël Seiller; mit Marco Lorenzini, Anna Fatholahzadeh, Serge Wolf und Konstantin Rommelfangen; eine Produktion des TNL, keine weiteren Vorstellungen.

Claude Reiles
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