Jugendarbeitslogiskeit

Nach unten revidieren

d'Lëtzebuerger Land du 23.03.2006

Nach den Jugendrevolten in den französischen Vorstädten vor vier Monaten protestieren nun französische Jugendliche gegen den Contrat première embauche. Diese mit einer Ausnahmeprozedur vom Parlament gestimmte Reform hebt den gesetzlichen Kündigungsschutz für Lohnabhängige unter 26 Jahre weitgehend auf. Handelte es sich im November um einen wütenden Aufstand von Kindern immigrierter Arbeiter gegen eine Gesellschaft, die ihnen keine Zukunft bietet, gehen nun Mittelschichtenjugendliche aus Angst vor dem sozialen Abstieg auf die Straße. "Dans la distribution sociale des opportunités, des ressources et des chances, notre pays, depuis une trentaine d'années, a traité les jeunes comme une variable d'ajustement", bilanzierte der Soziologe François Dubet am Sonntag in Le Monde. Die Jugendlichen als Korrekturfaktor zu benutzen und mit Ausahmeregelungen zu benachteiligen, wenn die Konten des Staats oder der Betriebe nicht mehr aufgehen, ist eine Tendenz, die sich auch hierzulande einschleicht. In seiner programmatischen Erklärung vor dem Parlament fragte sich beispielsweise Premierminister Jean-Claude Juncker am 12. Oktober, "ob es nicht ab und zu besser wäre, jungen Leuten, die keine Ausbildung haben, aber eine Beschäftigung finden können, die mit Ausbildungselementen versehen ist, einen Einstellungsmindestlohn anzubieten, den wir Qualifizierungs- und Formierungsmindestlohn nennen würden, den sie während ihrer nachschulischen Ausbildung im Betrieb bekommen. Das funktioniert nur, wenn am Ende der betriebsinternen Ausbildung die Aussicht auf eine definitive Beschäftigung besteht. Darüber wird in den nächsten Monaten debattiert." Mit der Schaffung einer weiteren Mindestlohnform würde nicht nur eine Politik zurückgenommen, die in den letzten Jahren darauf hinauslief, die Zahl der Mindestlohnformen zu senken. Auch die Verringerung der Lohnunterschiede bei Jugendlichen würde wieder umgekehrt. Bis zum Jahr 2000 hatten 15-Jährige Anspruch auf 60 Prozent, 16-Jährige auf 70 Prozent und 17-Jährige auf 80 Prozent des gesetzlichen Mindestlohns. Durch das Gesetz vom 22. Dezember 2000 war der Mindestlohn für 15- und 16-Jährige auf 75 Prozent erhöht worden. Ganz klar ist aber nicht, wen der Premier mit den "jungen Leuten" meint. Soll es sich um Minderjährige handeln, die heute 75 bis 80 Prozent des Mindestlohns und künftig noch weniger erhalten sollen? Schon der Motivenbericht der Regierung zur Reform von 2000 nannte diese Zielgruppe unbedeutend, denn "si on se met à la date du 31 mars 2000, seulement 191 travailleurs de moins de 18 ans accomplis à cette date étaient employés, toujours à cette date, par un employeur au Luxembourg, dont seulement 39 étaient âgés de moins de 17 ans". Oder soll es sich um junge Erwachsene unter 25 oder 30 Jahren handeln, die künftig einen Teilmindestlohn wie Minderjährige erhalten sollen? Womit eine elementare Größe des Arbeitsrechts demontiert würde, die aus der Einsicht geboren wurde, dass der Preis der Butter und der Miete für alle gleich ist. Allerdings sind bereits heute Jugendliche unter 25 Jahren vom Garantierten Mindesteinkommen RMG ausgeschlossen. Bis zur Reform durch das Gesetz vom 29. April 1999 lag das Mindestalter für Bezugsberechtigte mit Ausnahme von Alleinerziehenden sogar bei 30 Jahren. Beim Thema Arbeitslosigkeit und Beschäftigungsmaßnahmen fragte Premierminister Juncker auch im Oktober, "ob die relativ hohe Entschädigung dieser temporären Beschäftigungsverhältnisse nicht nach unten revidiert werden müssen. Viele Leute, besonders viele junge Leute, die in solchen temporären Beschäftigungsverhältnissen beim Staat und bei den Gemeinden unterwegs sind, tun alles, um definitiv auf diesen Stellen, die sie besetzen können, zu bleiben. Sie hören auf, sich eine andere Arbeit zu suchen." Offenbar sind jugendliche Arbeitslose die einzigen, die es verübelt bekommen, wenn sie einen "séchere Wee" suchen. Mit Contrats d'auxiliaire temporaire im öffentlichen Dienst und der Privatwirtschaft, mit Contrats de stages-initiation, in der Division d'auxiliaiere temporaire, in Stages d'insertion en entreprise und Stages de préparation en entreprise waren im Januar 1639 Jugendliche beschäftigt – oft als unverzichtbare Billigarbeitskräfte von Verwaltungen und Gemeinden. Nur einen Tag nachdem Juncker sich "gefragt" hatte, deponierte Arbeitsminister François Biltgen den Gesetzentwurf 5501, der die Antworten liefern soll (d'Land, 25.11.05). Dazu verlangte die Arbeiterkammer inzwischen in ihrem Gutachten, dass "le jeune demandeur d'emploi soit soumis aux mêmes conditions de rémunération applicables pour le personnel salarié du promoteur et qu'en tout état de cause, l'indemnité ne peut être inférieure 100% du salaire social minimum. Toujours est-il que même si, comme dans le présent projet de loi, le droit du travail ne s'applique pas aux contrats précités, notre chambre est d'avis qu'il faudra néanmoins préciser davantage certains droits du jeune demandeur d'emploi." (S. 3). Die Privatbeamtenkammer weist darauf hin, dass "si le projet de loi prévoit que le jeune peut être révoqué tout moment s'il ne remplit pas ses obligations, aucune disposition n'est prévue en cas de non-respect des obligations du promoteur." (S. 5). Als Bürger zweiter Klasse empfanden sich auch die Jugendlichen, die am Mittwoch vergangener Woche gemeinsam mit Lehrern und Eltern auf die Zustände im Ettelbrücker Technischen Lyzeum aufmerksam machten. Das für 1000 Schüler geplante Lyzeum zählt heute 1858, es fehlt an Klassensälen, Werkstätten, Kantinenraum und Sportsälen und die bestehenden Einrichtungen sind oft abgenutzt, kaputt und gefährlich. Ähnliche Verhältnisse gibt es, trotz oder wegen der jeweiligen Vorzeigegymnasien der wechselnden Bildungsministerinnen, in anderen, vor allem technischen Lyzeen. Auch an der frisch gegründeten Universität herrscht der Eindruck vor, dass für fast alle Bildungspolitiker und akademischen und Wirtschaftslobbys die Studenten bloß ein notwendiges Übel sind, das auf ein Minimum beschränkt werden soll. Dass die Jugendlichen nur in Sonntagsreden die Zukunft und die Hoffnung Luxemburgs verkörpern dürfen, zeigt die Jugendarbeitslosenrate. Im Dezember vergangenen Jahres lag die offizielle Arbeitslosenrate bei 5,6 Prozent. Von den Jugendlichen unter 25 Jahren waren aber 20,5 Prozent arbeitslos. Das heißt, die Jugendarbeitslosigkeit war viermal so hoch wie die allgemeine Arbeitslosigkeit. Während beim Thema Arbeitslosigkeit immer wieder darauf verwiesen wird, dass die "atypische" Arbeitslosenrate drei bis vier Prozentpunkte unter derjenigen der Nachbarländer liegt, gilt das nicht für Jugendliche. Mit 20,5 Prozent ist die Jugendarbeitslosigkeit in Luxemburg etwa so hoch wie in Frankreich (21,7 Prozent) oder Belgien (21,8 Prozent) und höher als in Deutschland (15,5 Prozent). Sie liegt über dem Durchschnitt der Euro-Zone (17,6 Prozent) und der Europäischen Union (18,4 Prozent). Trotz aller "Trau dech!"-Plakate des sozialistischen Wirtschaftsministeriums schaffen Arbeitslosigkeit und unsichere sowie schlecht bezahlte Arbeitsverhältnisse vermehrt "Zwangsjugendliche". Denn zusammen mit den hohen Mietpreisen machen sie es vielen Jugendlichen aus Arbeiter- und kleinen Angestelltenfamilien schwer, das Elterhaus zu verlassen, sich selbstständig zu machen und eine Familie zu gründen, also erwachsen zu werden. Vielleicht versteht es sich so besser, weshalb die CSV vor den letzten Wahlen die Wahlpflicht auf 75 Jahre heraufsetzte. Mit Erfolg, wie die Wahlanalyse der Uni Luxemburg errechnet hat. Dafür stimmten dann laut der Mitte Juli vergangenen Jahres durchgeführten Eurobarometer-Umfrage La Constitution européenne: sondage post-référendum au Luxembourg am 10. Juli 2005 fast zwei Drittel (62 Prozent) der Wähler unter 25 Jahren gegen den Europäischen Verfassungsvertrag (S. 8). Das war die zweitgrößte gesellschaftliche Gruppe der Vertragsgegner nach den Arbeitern, welche laut Eurobarometer zu 67 Prozent nein sagten. Die Vertragsbefürworter versuchten zwar umgehend, das Wahlverhalten der Jugendlichen mit derer Unerfahrenheit und mangelnden Reife zu erklären und einen Minister zur Aufklärungsarbeit in die Schulen abzukommandieren. Aber vielleicht drückten auch viele Jugendliche ihr Empfinden darüber aus, dass sie im Staatshaushalt und den Firmenkonten als Korrekturfaktor behandelt werden, statt von der Regierung und der Europäischen Union eine Zukunft angeboten zu bekommen.

 

 

Romain Hilgert
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