Entsenderichtlinie

Wer ist hier der Boss?

d'Lëtzebuerger Land du 10.07.2008

Wenn die Arbeitgebervertreter des Handwerks nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshof über die Umsetzung der Entsenderichtlinie in Luxemburg ruhig blieben, dann lag das daran, dass sie sich durch die geltenden Kollektivverträge relativ gut vor der Konkurrenz ausländischer Firmen geschützt fühlen. „Das Problem sind längst nicht mehr die Arbeitnehmer“, sagt Romain Schmit vom Handwerkerverband, „vielmehr sind es die faux indépendants, die uns Sorgen machen.“ 

Ein faux indépendant, ein falscher Selbständiger, ist jemand, der vorgibt, selbständig zu arbeiten, aber eigentlich doch in einem Untergebenenverhältnis zu einem Arbeitgeber steht. Weshalb sollte da jemand schummeln wollen? Hatte das falsche Unternehmertum zu Zeiten eines für die Staatsangehörigen der neuen EU-Mitgliedstaaten geschlossenen Arbeitsmarktes den Vorteil, dass diese unter dem Deckmantel des freien Dienstleistungsverkehr dennoch hier arbeiten konnten, so lassen sich die Bestimmungen der Entsenderichtlinie auch heute noch auf diesem Weg relativ einfach umgehen. Dies komme immer häufiger vor, berichtet Schmit. 

Möglich ist dies überhaupt nur, weil sich die Richtlinie lediglich auf angestellte Arbeitnehmer bezieht. Genauso wie die hier geltenden Kollektivverträge. Wer aber sein eigener Boss ist, dem schreibt das Arbeitsrecht nicht vor, wie viele Stunden täglich, zu welchem Entgelt er arbeiten darf. Der Chef bestimmt selbst, wann er Feierabend hat oder nicht. Und so kommt es, dass die ausländische Billiglohnkonkurrenz nicht als Angestellte von Unternehmen auf den hiesigen Baustellen antritt sondern als Einzelkämpfer. Je weiter man sich vom Rohbau, also den großen Arbeiten entferne, je größer die Chance, solchen Scheinselbständigen zu begegnen, meint Schmit. 

Zum Beispiel beim Innenausbau, also beim Errichten von Trennwänden innerhalb größerer Gebäude. Claude Lorang, stellvertretender Direktor der Gewerbeinspektion ITM, bestätigt den Trend. „Auf größeren Baustellen ist die Problematik allgegenwärtig“, sagt er. „Auf allen größeren Baustellen, die in der letzen Zeit kontrolliert wurden, sind uns solche Leute begegnet.“„Die können länger und billiger arbeiten, als wir dies je dürfen“, erbost sich ein Unternehmer, der nicht genannt werden will. Länger bedeute in dem Falle zwölf bis 14 Stunden am Tag, sagt er. Billiger bedeute, sie erhielten wohl einen Stundenlohn von rund zehn Euro. 

Da die fleißigen Arbeiter aber eben nur dem Schein nach selbständig seien, eigentlich aber doch einen Arbeitgeber hätten, der sie auf die Baustellen schicke, würden ihnen davon normalerweise noch Kost und Logis abgezogen. Dann blieben ihnen weniger als fünf Euro die Stunde. Logis heißt in einem Fall, den der Unternehmer selbst miterlebt hat, die Unterbringung auf dem Campingplatz. Dorthin nämlich folgte er einigen faux indépendants, die sich nach Dienstschluss auf einer öffentlichen Baustelle kurzerhand seine Maschinen angeeignet hatten. Eine ganze Kolonie fand er auf dem Campingplatz vor. Solche Arbeiter ins Land zu holen, lohne sich nur auf großen Baustellen, wo die Aufträge mehrere Millionen Euro wert seien, so die Einschätzung des Unternehmers. Auch Claude Lorang bestätigt: vor allem auf Großbaustellen findet man Scheinselbständige vor. 

Stellt sich die Frage, wie es überhaupt dazu kommt, da solchen grossen Aufträgen meist eine öffentliche Ausschreibung vorausgeht. Durch eine Kaskade des Subunternehmertums, antwortet Romain Schmit. Ein Generalunternehmer, der sich um einen ausgeschriebenen Auftrag bewirbt, muss wohl miteilen, wer seine Subunternehmer sind und welchen Teil der Arbeiten sie ausführen werden. Allerdings sei der Preisdruck derzeit enorm, weswegen die Subunternehmer sich ihrerseits weitere, billigere Subunternehmer suchten. Weil sie nicht dazu verpflichtet sind, Auskunft darüber zu geben, an wen sie die Arbeiten abgeben, können diese problemlos weitergereicht wer­den – bis ans Ende der Kette, wo Billiglohn-Selbständige die Ärmel hoch­krempeln. Was allerdings bedeutet, dass auch „gute“ Firmen, die sich über die billige Konkurrenz aufregen, oft selbst am Anfang der Subunternehmerkette stehen und mitverantwortlich sind. Das kann auch Romain Schmit nicht abstreiten. 

Wo aber findet man diese Arbeitskräfte überhaupt und wie kommt der Kontakt zustande? Es seien Firmen, erklärt Claude Lorang, die Werbung für die Dienste ihrer „selbständig“ Angestellten machten. Im Internet, per Fax an potenzielle Auftraggeber und mit Flugblättern. 

Für die ITM stellen sich derweil ganz andere Fragen. Die der Sicherheit zum Beispiel. Einen Unfalltod eines faux indépendant hat die Behörde bereits verzeichnet. Wer jeden Tag zwölf bis 14 Stunden malocht, kann nicht die gleiche Konzentration aufbringen wie jemand der die reguläre Arbeitszeit einhält. 

Wie aber kann die ITM arbeitswillige Billiglöhner davon abhalten, ihre Arbeitskraft zu Dumpingpreisen zu verkaufen, und sie dazu zwingen, geltendes Arbeitsrecht einzuhalten? Ihre Mittel sind begrenzt. Ein erster Ansatz ist, zu prüfen, ob sie sich den geltenden Niederlassungsregeln unterworfen haben. Denn wer als Firma hier arbeitet, muss vom Mittelstandsministerium die nötige Zulassung haben und über eine Mehrwertsteuernummer verfügen. „Wer sie nicht hat, kann nicht behaupten, selbständig zu sein“, sagt Lorang. 

Und kann der Baustelle verwiesen werden. Andere entlarven sich gleich selbst durch ihre Dokumente. Sie deklarieren sich als „entsendet“ und damit als Arbeitnehmer einer Drittperson, obwohl sie ihr eigener Arbeigeber sein wollen. Oder sie weisen ein E101-Formular vor. Vom Standpunkt der Sozialversicherung ist damit ein Arbeitnehmerverhältnis nachgewiesen. 

Kann die Gewerbeinspektion dann noch nicht nachweisen, dass es ein Un­tergebenenverhältnis zu einer Drittperson gibt, bleibt nur die Nachfrage bei der zuständigen Behörde im Herkunftsland. Die kann prüfen, ob die betroffene Person zu Hause nicht doch bei einer Firma als angestellt gilt. „Wenn auf einer Baustelle zehn Staatsangehörige des gleichen Landes die gleiche Arbeit verrichten, ist das immer verdächtig“, so Lorang. Nur über die Verbindungsstelle kann außerdem geprüft werden, ob die Betroffenen daheim über eine echte Han­delsermächtigung verfügen. Damit diese Zusammenarbeit künftig besser klappt, will die ITM mit den jeweiligen Verbindungsstellen Abkommen abschließen, die den Informationsfluss erleichtern sollen. Mit Belgien zum Beispiel hat sie das diese Woche gemacht. Andere sollen folgen. Die Arbeit der ITM würde dadurch bestimmt vereinfacht. Stellt sich aber heraus, der Arbeiter ist kein falscher, sondern ein richtiger Selbständiger, zumindest auf dem Papier, kann die Gewerbeaufsicht ihn nicht davon abhalten, rund um die Uhr zu arbeiten. Und ob der Zugang zum Beruf und zur Handelsgenehmigung in den anderen Ländern schwieriger oder einfacher ist als in Luxemburg, daran ändert eine gute Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden auch nichts.

Wer allerdings meint, das Phänomen der Scheinselbständigkeit gebe es nur im Niedriglohnsektor, der irrt. Auch in der Industrie habe es ausländische Ingenieure und Architekten gegeben, sagt Lorang, Möchtegern-Freiberufler, die zu Hause doch alle beim gleichen Büro auf der Lohnliste standen. 

Die Scheinselbständigkeit von hochqualifizierten Fachkräften funktioniert aber anders. Portage salarial nennt sich das Verfahren, das seit kurzem in Belgien verboten und in Frankreich offiziell per Gesetz erlaubt wurde. Es ist eine „Dreiecksbeziehung“ zwischen der Fachkraft, einer spezialisierten Agentur und einem Auftraggeber, der ein Projekt zu vergeben hat. Anstatt als Freiberufler einen Vertrag mit dem Auftraggeber abzuschließen, lässt sich die Fachkraft von der Agentur einstellen. Entweder befristet oder unbefristet. Dadurch wird sie deren Angestellter und genießt alle Rechte, die einem Arbeitnehmer zustehen. Andererseits kann geschaltet und gewaltet werden, als wäre man sein eigener Chef und zwar ohne eine Handelsgenehmigung, die man als echter Freiberufler braucht. 

Egal ob man diejenigen, die sich das System zunutze machen, nun als Edelschmarotzer des Sozialsystem sieht, oder quasi als Selbständigkeitsschnupperkurs, der es erlaubt, ohne volles Risiko Erfahrung und Kunden zu sammeln: im Luxemburger Arbeitsrecht ist der Fall nicht vorgesehen und entspricht eigentlich einer illegalen Überlassung von Arbeitskräften. Berücksichtigt man zudem, welches Ausmaß das System in Frankreich angenommen hat, – dort gibt es zwei Berufsverbände, die nun Tarifabschlüsse verhandeln – ist davon auszugehen, dass dies in Luxemburg nicht anders sein wird. Tatsächlich gibt es auch hier spezialisierte Firmen und Agenturen, die solche Dienste anbieten. Sie versprechen Informatikern, Ingenieuren, Geologen, Betriebswirten das schnelle Geld; das Honorar verhandelt ja jeder selbst mit dem Kunden.

Schließlich finden sich auch Firmen, die bei potenziellen Kunden im Ausland mit den Vorteilen einer Einstellung ihrer Experten in Luxemburg werben. Luxemburg als Ausgangspunkt für die Entsendung von hochqualifiziertem Fachpersonal in die ganze Welt?

Michèle Sinner
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