Arbeit und sozialer Zusammenhalt

Working Poor

d'Lëtzebuerger Land vom 18.10.2007

Wer arbeitet, sollte davon auch ordentlich leben können. Das fand Arbeitsminister François Biltgen, der darauf gehalten hatte, am Mittwoch bei der Vorstellung der diesjährigen Statec-Studie über Arbeit und sozialen Zusammenhalt dabei zu sein. Vielleicht trägt diese jährlichaufgestellte Studie sogar dazu bei, einen Begriff in die politische Diskussion einfließen zu lassen, der hierzulande bisher höchstens als Übel der sozialstaatlich unterentwickelten USA angesehen wurde: Working Poor. 

Gemeint sind Leute, die einer Lohnarbeit nachgehen und dabeinicht genug verdienen, um halbwegs anständig zu leben.DieseFormder Armut steht im Widerspruch zur Auffassung, dass Armut ein Problem von Arbeitslosen und Erwerbsunfähigen sei, im Widerspruch zu einer Arbeitsethik, dass Fleiß belohnt werde, und zur Darstellung, dass „Armut im reichen Luxemburg“ ebenso atypisch sei wie Arbeitslosigkeit. 

Die Statec-Studie stuft 10,3 Prozent der Erwerbstätigen als Working Poor ein, weil ihr Einkommen höchstens 60 Prozent des mittleren Einkommens im Land ausmacht, die EU-weite Definition der Armutsschwelle. Die meisten Working Poor seien Leute mit niedrigem Bildungsniveau, Arbeiter und portugiesische  Einwanderer.

Natürlich lässt sich der genaue Anteil  der Working Poor in Frage stellen, weil das als Maßstab genommene mittlere Einkommenim internationalen Vergleich hoch ist. Aber hinter diesersozialpolitischen Sichtweise verbirgt sich auch ein wirtschaftliches Phänomen: der durch die Automatisierung der Produktionsprozesse,die Arbeitslosigkeit, atypische Arbeitsverhältnisse und den internationalen Wettbewerb verschärfte Preisdruck auf dieunqualifizierte Arbeit. Dieser Preisdruck wird derzeit vor allem durch hohe sozialstaatliche Transfers abgefedert. Ohne sie wäre der Anteil der Armen fast doppelt so hoch. Die steuerliche Kinderermäßigung ab nächstem Jahr restlos durch eine Kindergelderhöhung zu ersetzen, erhöht diese Transfers weiter – so lange der Sozialstaat nicht als zu teuer empfunden wird. Gleichzeitig sieht es so aus, als ob unqualifizierte Arbeit zunehmend aus dem Arbeitsmarkt und in den halbkaritativen Sektor der staatlich bezuschussten Beschäftigungsinitiativen gedrängt werden soll. Radikalliberale und linke Politiker fordern sogar, die unqualifizierte Arbeit mittels Negativsteuern und Bürgergeld quasi zu verstaatlichen.

Dagegen haben die Autoren des Berichts und auch der Arbeitsminister sicher Recht, wenn sie raten, dass berufliche Qualifikation das beste Rezept sei, um der Falle der Erwerbstätigenarmut zu entgehen. Auch der ziemlich kurzlebige Fontagné-Bericht hatte vor drei Jahren vorgeschlagen, den gesetzlichen Mindestlohn zu kürzen und die Differenz zur Weiterbildung der Beschäftigten zu nutzen. Aber sie allebeantworten nicht die Frage, wer in Zukunft unqualifizierte Arbeitin Luxemburg verrichten soll, wenn er und vor allem sie nicht davonleben können. Selbst eine durchautomatisierte Industrie hat in oder um den Produktionsablauf Etappen, die zu automatisieren teurer würde, als den gesetzlichen Mindestlohn zu zahlen. Selbst ein hochentwickelter Dienstleistungsstaat hat Tätigkeiten, die kaum oder keine Qualifikation verlangen, aber von irgendjemand verrichtet werden müssen – am Ende vielleicht von überqualifizierten Working Poor oder von illegal eingewanderten Schwarzarbeitern. 

 

Romain Hilgert
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