Black Mirror

Aufs Schwein gekommen

d'Lëtzebuerger Land vom 10.03.2017

Menschen mit überdimensionalen schwarzen VR-Brillen auf dem Kopf blicken in die Zukunft. Erfahren sie dabei mehr über sich und die Welt, oder ist es doch nur eine kurzfristig aufregende, überwältigende Sinnesintensität? Der Pavillon der virtuellen Realität im Casino – Forum d’art contemporain präsentiert vom 1. bis zum 12. März Kurzfilme, die die künstlerischen Möglichkeiten dieser 360-Grad-Technik vorführen. Vier Hocker stehen im Wintergarten des Casinos, auf denen die Besucher Platz nehmen, einen Film auswählen und dann eintauchen können in virtuelle Welten, indem sie sich um ihre eigene Achse drehen.
„Der Pavillon bietet ein mutiges Programm aus narrativer und ästhetischer Sicht, mit speziellem Fokus auf Aktivismus“, heißt es in der Ankündigung. Zwölf überwiegend politische Kurzfilme (fünf bis 15 Minuten) stehen zur Auswahl. Allerdings braucht es starke Nerven! Tierquälerei, Ebola-Überlebende, Abschiebeknast für Flüchtlinge, verseuchte Lebensrealitäten nach Fukushima –  die Themen gehen unter die Haut und bisweilen ist die gezeigte Grausamkeit abstoßend. Einige der Kurzfilme erzeugen durch die Bilderflut in Schwindel.
Waves of Grace (Gabo Arora, Chris Milk; USA 2015 – 10’) folgt einer Überlebenden des Ebola-Virus in Liberia. Mit einem Mal befindet man sich auf einem bunten Markt, unter Ebola-Erkrankten, auf einer Krankenstation oder in einer Kirche. Die Frau, die die Seuche überwunden hat, erzählt, einem Gebet gleich, Gott dankend, dass sie überlebt und er sie zur Botschafterin gemacht hat. Ihre Immunität nutzt sie, um sich um Waisenkinder in ihrem Dorf zu kümmern und ihnen Lebensmut zu geben.
Eher dem Genre Horrorfilm à la Chucky – die Mörderpuppe folgend, ist Sergeant James von Alexandre Perez. In seinem siebenminütigen Film befindet man sich mitten in einem Kinderzimmer und sieht quasi durch die Augen eines Siebenjährigen. Als das Licht ausgeschaltet wird, werden Puppen und Spielzeuge lebendig. – Ein ästhetisch überzeugender Perspektivenwechsel, der nicht auf plakativere Aussagen setzt.
Anders Ianimal (von Animal Equality, UK, DE 2016), der im Abfilmen der grausamen Realitäten von Massentierhaltungen Ekel auslöst. „Es gibt zwei Versionen, eine mit Hühnern und eine mit Schweinen“, erklärt Florian Bergé, der den Besuchern zur Seite steht, um ihnen die Filme abzuspielen und das Prinzip erklärt. „Die mit den Schweinen ist blutiger!“, warnt er.
Aus den Augen eines Schweines im Schlachthof folgt man in Ianimal dem Weg des Tieres bis zu seinem Tod. „Du wurdest in einem Käfig in den Exkrementen deiner Mutter geboren ...“ erzählt die Stimme von Thomas D. von den Fanta 4, „deine Zähne werden abgeschliffen, dein Ringelschwanz abgeschnitten, du wirst niemals frische Luft atmen... Dein Verbrechen ist es, geboren worden zu sein!“, erklingt es pathetisch aus dem Off. Vom überfüllten Schweinestall, in dem sich die Tiere drängeln und gegenseitig verstümmeln, bis hin zur Schlachtung, wo ihnen bei vollem Bewusstsein die Kehle aufgeschlitzt wird, zeigt der Film die „unethische Realität“ konventioneller Massentierhaltung und mündet in den Appell: „Du musst die Welt nicht durch die Augen eines Schweines sehen, aber du kannst das Leid beenden. Bitte streiche Fleisch von deiner Speisekarte!“
Weniger effektheischend ist Indefinite (Darren Emerson, UK 2016). Der 14-minütige Kurzfilm folgt in England gestrandeten Flüchtlingen. Als Zuschauer befindet man sich meist im kargen Abschiebeknast irgendwo an der Küste Großbritanniens. Beim Blick in den Himmel an den Stacheldrahtzäunen hoch oder an die Zimmerdecke transportiert sich die Trostlosigkeit. „M“, der zweieinhalb Jahre lang dort festgehalten wird, erzählt von dem Gefängnis als „Living Hell“ und davon, wie schwer es ist, nicht an Selbstmord zu denken. Das Bild, wie einer seiner Mithäftlinge sich irgendwann anzündet, wird einem nicht erspart, hat jedoch in dem Kurzfilm fast etwas Surreales.
Es sind vornehmlich Filme mit einem klaren Anliegen, die bewusst aufrütteln sollen. Was in Teilen gelingt, gilt jedoch nicht für alle. Einige der 360-Grad-Streifen übertreiben es in ihrem missionarischen Eifer und blockieren damit Erkenntnisprozesse. Wenn einem mit reißerischen Aufnahmen gebetsmühlenartig eingetrichtert wird, dass man kein Fleisch essen darf, macht einen das mitunter so aggressiv, dass man schon aus Protest von einem Steak träumen will. Und angesichts der erfahrbaren grausamen virtuellen Realitäten, dürfte so mancher den Pavillon taumelnd verlassen.

Jutta Hopfgartner
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