Nach den Wahlen um die Sessel

Europarätsel, Holland

d'Lëtzebuerger Land vom 17.03.2017

Ausgerechnet Holland! Ein Seufzer geht durch Europa. Holland, so weltoffen. Das war doch das mit dem Gras und den Dolle Minnas und den Klaboutern. Ja, das ist schon sehr, sehr lange her, aber genau deshalb muss man in der alten Seemanns-
truhe kramen, sie knarrt ein bisschen. Amsterdam war das, was jetzt Berlin ist, alle pilgerten hin, man fand etwas, was es sonst nirgends gab, wenn man nicht über den Hindukusch wollte. Freiheit. Menschen in allen Farben wimmelten herum, zugleich war alles frisch gewaschen, auch vom Regen. Die Sleep-ins voll von gelbäugigen Junkies, wenn Wesen nachts aus dem „Kosmos“ schwebte, schlurften Indianer durch die Gassen. Alle Sorten Wesen trafen sich im „Kosmos“, sie kannten sich in vielen Dimensionen aus, sie gaben sich gegenseitig Tipps und Trips.

Anscheinend gab es in diesem Hollandland auch Einheimische, sie verkauften
Mandelbrot, zum Beispiel. Sie taten niemand was. Es gab noch etwas, was es sonst noch nirgends gab: Geld, ohne zu arbeiten, ein sehr fortschrittliches Land. Malerinnen, hieß es, kaufe der Staat ein Bild pro Jahr ab, das Bild würde in einem Keller verschwinden und die Künstlerin könne ein Jahr lang leben, bis zum nächsten Bild. Alles schien vorbildlich.

Aber natürlich konnte es nicht ewig so weitergehen, das Land wurde immer beliebter, bei den Falschen, die Einheimischen gerieten ins Grübeln. Skelette in Lumpen passten doch nicht wirklich zu den Puppenhäuschen. Amsterdam wurde clean und bettlerinnenfrei, mit Fahrrädern mit Blumenboas und Hausbooten, auf denen sich gesunde Menschen sonnten. Aber es blieb trotzdem weltoffen, das war eben sein Label, seine Marke. Und schon wieder waren sie Pioniere. Die Sexarbeiter_innen saßen nicht mehr nur mit Strickzeug in einer Vitrine rum,

sie besuchten Menschen mit Behinderung, um sie sinnlich zu verwöhnen – eine gute Idee, der Staat bezahlte sie. Pragmatismus und Vernunft waren eben immer schon eine Spezialität des Landes, in dem es wenig Platz gibt, sogar der Horizont ist besetzt.

Die Niederländer_innen sind gut im Rationalisieren, auch im Wegrationalisieren, sie rationalisieren die Kirchen weg, sie rationalisieren sich selber weg, wenn sie die Zeit für gekommen halten. Man kann seine Todeskandidatur stellen und sich seinen Tod bestellen. Beim Nicht-auf-die-Welt-Kommen waren sie sowieso Pionier_innen.

Ausgerechnet Holland!, seufzte Europa, es ist doch so toll, mit Tulpen und dem pausbackigen Koning und den Puppenhäusern. Aber was finden sie nur an dem Puppenmann mit der fein geschnitzten Maske aus dem Südostindien-Trödelladen, mit dem Haar aus Gold und Silber? Die Wirtschaft boomt doch! Aber dann kommen Postbotinnen und Marktstandler und alleinerziehende Mütter, und das Wort „abgehängt“ taucht in der Berichterstattung auf. Statt der Modernisierungsverlierinnen und der Loser tauchen die Abgehängten auf.

Dann treten 28 Parteien an, ein großzügiges System, wie die Lotterien, in denen jede gewinnt. Beinahe jede. Und zwar Sessel, wie es so schön Behagen weckend in Holland heißt. Außer den armen Sozialdemokrat_innen können sich quasi alle freuen. Die Christ_innen und Migrant_innen kriegen ein paar Sessel, die Tiere auch. An den Parteisprecher der Altenpartei muss der Interviewer seine Frage öfter wiederholen, für die Alten sind gar schon vier Ruhesessel reserviert. Die Linksgrünen oder die Grünlinken freuen sich im Melkweg, einem historischen Ort, manch eine war dort einst in ihrem Himmelskörper unterwegs und sah die Sterne. Jetzt stehen all die jungen netten Leute mit ihrer jungen, adretten Justin-Trudeau-Kopie an ihrer Spitze hier. Ach!, die himmlische Vermehrung ihrer Stimmen, ach!, die Gesellschaft ist doch nicht so!

Seufz, uff, Europa atmet auf. Der Puppenmann ist abgeschlagen, alles gut, Holland nicht Mittelengland, Holland nicht Mittelamerika. Holland ist Holland. Eben. So weltoffen.

Das neue Patentrezept, Impfung Rechts light gegen Rechtsradikal, hat funktioniert. Und Erdogan hat auch mitgespielt.

Michèle Thoma
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