Die Betrugsfälle in öffentlichen Verwaltungen häufen sich. Warum? Weil Kontrollen fehlen, auch durch die Banken, weil die Digitalisierung stockt und internationale Transaktionen zunehmen

Gelegenheit macht Diebe

d'Lëtzebuerger Land du 26.07.2019

Ende Januar hatte die Nachricht, der Wohnungsbaufonds sei Betrügern auf den Leim gegangen, schon Fragen über den verantwortungsvollen Umgang mit öffentlichen Geldern aufgeworfen. Warum hatte der Fonds 800 000 Euro nach Polen geschickt, statt auf das Konto ihres heimischen Zulieferers, ohne sich zu fragen, warum eine Luxemburger Baufirma in einer englischen Mail eine neue ausländische Kontonummer durchgebe? Doch es schien sich schnell ein Konsens zu bilden, dass dieses Malheur purer Dummheit geschuldet sei, wofür nicht die zuständige Ministerin die Verantwortung übernahm, sondern der Direktor, der wenig später aus privaten Gründen von seinem Posten zurücktrat.

Keine Woche, nachdem er das getan hatte, Anfang Februar, meldete der staatlich Presse- und Informationsdienst (SIP), es sei Klage gegen zwei Mitarbeiter der Gesundheitskasse (CNS) eingereicht worden, die Gelder unterschlagen hätten. Der Betrag von zwei Millionen Euro machte die Runde, die über einen Zeitraum von mindestens zehn Jahren gestohlen worden seien. Mitte April musste der SIP erneut melden, dass öffentliche Gelder unterschlagen wurden, diesmal bei der Arbeitsagentur Adem. Seit Februar 2019 (als die Affäre in der CNS aufflog) seien rund 92 000 Euro unterschlagen worden, Polizei und Staatsanwaltschaft wurden alarmiert. Kurz vor Nationalfeiertag reichte die Gemeinde Hesperingen Klage gegen zwei ihrer Beamten ein, die während 20 Jahren ein Betrugsnetz geführt haben sollen; es geht um Überweisungen für drei Millionen Euro.

Einen konkreten Grund dafür, dass auch Betrüger, die seit Jahrzehnten aktiv waren, in den vergangenen Monaten ans Licht kamen, scheint es nicht zu geben. Es war „purer Zufall“, räumten die Verantwortlichen in diversen Fällen ein, dass die Machenschaften aufflogen. Und das, weil die Betrüger Fehler machten, auf die die Verwaltungen mit Ausnahme der CNS von außen aufmerksam gemacht wurden. Die drei Affären bei der CNS, der Adem und in Hesperingen zeigen, dass Gelegenheit Diebe macht. Gelegenheiten ergaben sich, weil die Verwaltungen mit der Digitalisierung hinterherhinken und mangels Informationen und Informationsaustausch Probleme haben, Auslandsoperationen durchzuführen. Und, wie der Fall Hesperingen zeigt, weil unehrliche Beamte den Spielraum der von ihnen verwalteten Budgets nutzen können, um Geld abzuzweigen.

Yann Baden, Präsident der Vereinigung Stop Corruption, findet die Fälle ziemlich „dreist“ und ihre Häufung „doch beunruhigend“. Eigentlich glaubt er nicht, dass es heute mehr oder weniger Betrüger gibt als früher oder sie weniger vorsichtig seien. Geändert hat sich seiner Meinung nach allerdings die Reaktion, wenn ein solcher Betrug innerhalb einer Verwaltung bekannt wird. Habe man früher vielleicht noch eher versucht, den Deckel auf solchen Vorwällen zu halten, habe sich die Mentalität gewandelt, verweist Baden auf die Klagen und die Pressemitteilungen darüber. „Das ist ein gutes Zeichen.“ Diesen Mentalitätswandel führt der Anwalt darauf zurück, dass Themen wie Korruption, Betrug und Unterschlagung öffentlicher Gelder kein Tabu mehr seien und breiter diskutiert würden.

Und es wurde diskutiert. Unter anderem im parlamentarischen Ausschuss für Arbeit, Beschäftigung und die Sozialversicherung. Dort informierten So­zialversicherungsminister Romain Schneider (LSAP) und CNS-Präsident Christian Oberlé am 5. Februar über die Vorkommnisse bei der CNS. Den Betrag von zwei Millionen Euro wollten sie nicht bestätigen. Auch nicht, dass die Mitarbeiterin, die nach Hausdurchsuchungen in Fentingen und Ettelbrück ein halbes Jahr später mit drei weiteren Personen angeklagt und in Untersuchungshaft gesetzt wurde, ein, wie Le Quotidien berichtet hatte, mit Tippex manipuliertes Formular auf dem Kopierer vergessen hatte, das die Arbeitskollegen stutzig machte. Doch laut Protokoll der Ausschusssitzung erzählte Oberlé von der Zufallsentdeckung: „La fraude ne fut pas détectée par un système d’audit interne, car dans un tel cas, il n’aurait pas fallu dix ans avant de s’en rendre compte.“ Im Protokoll ist nachzulesen, wie die zwei innerhalb der CNS gestellten Betrügerinnen vorgingen. Demnach ließen sie bereits an Versicherte zurückerstatte Beträge für Behandlungen im Ausland ein zweites Mal auf ihre Konten (und die weiterer Personen) erstatten. Dies nachdem sie die Sozialversicherungsnummer ausgetauscht hatten, andernfalls wären die Überweisungen vom System blockiert worden. Die Betrugsfälle beschränkten sich auf internationale Rückerstattungen, so Oberlé im Ausschuss. „Dans le contexte des prestations internationales, Monsieur le président de la CNS compare la situation à un ‚black box’, une boîte noire, qui rend les contrôles de la CNS bien plus difficiles que s’il s’agissait de contrôler les prestations et les versements opérés au niveau du Grand-Duché.“

Mindestens seit 2009, seit der Fusion der Krankenkassen, erstatteten sich die Betrügerinnen auf diese Art Behandlungskosten, die ihnen nicht zustanden. Ob sie zuvor schon Gelder unterschlugen, konnte Oberlé nicht ausschließen, weil die Mitarbeiterinnen schon vor der Fusion bei den Krankenkassen angestellt waren. Oberlé wies darauf hin, dass ein solcher Betrug innerhalb eines Systems des Tiers payant généralisé nicht möglich sei, doch bei Auslandsbehandlungen gebe es nur eine Kostenvorerstattung, wenn eine Arztüberweisung vorliege.

Die Adem verdankt den entscheidenden Hinweis auf den Betrüger in den eigenen Reihen der Finanzsparte der Post. Die wollte den Auftrag der Adem zur Überweisung von 2 000 Euro Arbeitslosengeld auf eine Prepaid-Kreditkarte durchführen. Doch der Maximalbetrag zur Einzahlung, der auf solchen Kreditkarten gilt, war überschritten. Die Überweisung ging nicht durch. Da kontaktierte die Post den Auftraggeber. „Suite à l’avertissement de la part de la Post, il est apparu que le bénéficaire n’était autre que le salarié fautif“, heißt es im Sitzungsprotokoll des Beschäftigungsausschuss vom 29. April, als Arbeitsminister Dan Kersch (LSAP) und Adem-Direktorin Isabelle Schlesser den Abgeordneten Rede und Antwort standen.

Im Fall Adem hat die Staatsanwaltschaft bisher nicht über eine Anklage informiert. Der mutmaßliche Betrüger arbeitete seit 2013 in der Abteilung „Chômage“. Er ist einer von 56 Mitarbeitern – das entspricht zehn Prozent der Belegschaft –, welche die Adem von anderen Arbeitgebern ausleiht, 42 davon bei Arcelor-Mittal. Sie tut das mit der etwas fadenscheinigen Begründung, man habe Mitarbeiter mit Privatsektorerfahrung gesucht. Dan Kersch kam nicht umhin einzuräumen, dass diese Art der Leiharbeit vor allem dazu diente, Unternehmen in Schwierigkeiten im Rahmen von Restrukturierungsplänen Mitarbeiter abzunehmen, und „qu’il conviendrait de régulariser peu à peu cette situation“. So wie er auch die Situation der 23 Selbstständigen mit Dienstleistungsvertrag normalisieren möchte, die man mit wenigen Ausnahmen als „Scheinselbstständige“ betrachten könne.

Doch der Minister war formell: Diesen Betrug hätte ebenso gut ein Beamter begehen können. Der Mitarbeiter ergaunerte sich insgesamt 106 000 Euro (15 000 konnten bereits zurück geholt werden), indem er einerseits Anträge, in denen Unterlagen fehlten, mit gefälschten Papieren und seinen Kontonummern vervollständigte, auf die das Arbeitslosengeld nach Vervollständigung der Dossiers überwiesen wurde. Und indem er andererseits Bezüge auf eines seiner sechs Konten leitete, die eigentlich Arbeitslosen geschuldet waren, die ins Ausland umgezogen waren – beispielsweise nach Portugal.

Auch wenn der Adem eine richtige Anschrift im Ausland fehle, sei sie dennoch verpflichtet, das Arbeitslosengeld zu überweisen, erklärte Schlesser den Abgeordneten. In diesen Fällen schickt das Centre informatique de l’État den Beziehern des Arbeitslosengeldes im Ausland eine Abrechnung, die mangels korrekter Anschrift meistens ihr Ziel verfehlt. Doch dann wollte es der Zufall, dass eine dieser Abrechnungen den richtigen Empfänger fand, trotz unvollständiger Adresse. Er beschwerte sich bei der Adem, wo sein Geld bleibe.

„Monsieur le Ministre signale dans ce contexte que jadis, les instituts bancaires contrôlaient si le nom du bénéficiaire coïncidait avec le numéro de compte du bénéficiaire. Or, une telle vérification n’est plus systématiquement affectuée. Ce fut selon les dires de Monsieur le Ministre, un constat surprenant que l’on a dû faire“, hält der Berichterstatter fest. Dabei war genau diese Problematik Ursprung der kurz nach dem Regierungswechsel 2013 von der Anlegerschutzvereinigung Protinvest losgetretenen Polemik gegen die ehemalige Kabinettschefin von Luc Frieden, der Protinvest einen Interessenkonflikt als Verwaltungsratsmitglied der Bil und der CSSF vorwarf: Die Bank hatte die Übereinstimmung von Kontonummer und -inhaber mit dem Empfänger einer fehlgeleiteten Überweisung nicht geprüft. Die Schlammschlacht machte wochenlang Schlagzeilen. Aber damals interessierte es die Minister der neuen Koalition wahrscheinlich weniger, warum Friedens rechte Hand angegriffen wurde. Hauptsache, sie räumte das Feld. Adem-Direktorin Isabelle Schlesser beklagte im Beschäftigungsausschuss Ende April ihrerseits mehr als einmal, dass ein solcher Betrug mit besserer Informatik und einem besseren elektronischen Austausch an Informationen zwischen Behörden im In- und Ausland nicht möglich gewesen wäre. Wobei ein simpler Vergleich der Empfängernamen mit den Kontoinhabern auf Bankenebene wohl in allen vier Fällen die Täuschung hätte aufdecken müssen.

Denn auch in Hesperingen fiel der Betrug zweier Gemeindebeamter schließlich auf, weil Geld auf dubiose Konten ging. Die Versicherungsgesellschaft, bei der die Gemeinde die Auszahlung einer Schadenssumme einforderte, teilte mit, sie sei bereits überwiesen. Dabei war der Einzugsstelle der Gemeinde Wochen vorher aufgefallen, dass die Summe fehlte. Als die Kontonummer dann geprüft wurde, zeigte sich, dass das gleiche Konto von zwei externen Dienstleistern benutzt wurde, die der Gemeinde in der Vergangenheit Rechnungen ausgestellt hatten. Die beiden Beamten hatten, wie Bürgermeister Marc Lies (CSV) erklärt, zwei Scheinfirmen gegründet, die sie zwischen die Gemeinde und externe Dienstleister- und Zulieferbetriebe schalteten.

Ganze 20 Jahre zweigten sie, soweit die Gemeinde das Geschehen bisher rekonstruieren konnte, über diesen Weg „Kommissionen“ ab. Die Firmen waren nicht einmal im Firmenregister eingetragen. Dennoch verfügten sie, wie es aus der Gemeinde heißt, über Bankkonten in ihrem Namen. Drei Millionen Euro wurden über das System abgewickelt, wobei nicht klar sei, wie hoch der reale Schaden ist; in welchem Umfang dafür Dienstleistungen erbracht wurden und wie viel Geld die beiden Beamten davon tatsächlich in die eigene Tasche gesteckt haben. Denn es wurden Arbeiten durchgeführt. „Das geht von bis“, sagt Lies. Erwerb von Maschinen, Putzarbeiten, sogar Straßenbau- und Kanalisationsarbeiten.

Möglich war das, weil die beiden Betroffenen als Beamte in ihren Diensten Gemeindebudgets verwalteten, wie das üblich ist. Über diese Budgets vergaben sie via ihre Scheinfirmen Aufträge für Gemeindearbeiten an externe Firmen, immer unterhalb der Sockel für öffentliche Ausschreibungen. Und sie überschritten die Jahresetats ihrer Dienste nicht. Das interne Kontrollsystem zur Auszahlung von Rechnungen konnten sie überlisten, weil sie, wie vom System gefordert, als zuständige Beamte die eigenhändig ausgestellten Rechnungen validierten, bevor die Finanzabteilung die Überweisungen durchführte. So fiel ihr Betrug jahrelang nicht auf. „Der Schock sitzt tief“, sagt Lies. Und weil auch er nicht versteht, wie externe Dienstleister beispielsweise Straßenarbeiten durchführen und ihre Rechnung an eine Firma mit x-beliebigem Namen ausstellen anstatt an die Gemeinde, der die Straßen gehören, ist er „fast überzeugt, dass es Absprachen gab“ mit anderen Firmen. Am Dienstagmorgen nahm die Polizei ihre Ermittlungen in den Büros der Gemeindeverwaltung auf.

Michèle Sinner
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