Luxemburgs Schulkinder lernen Schreiben in Deutsch. Damit das klappt, müssen Lehrer einiges beachten. Interview mit der Sprachwissenschaftlerin Constanze Weth

„Sprache ist kein Betonblock“

Constanze Weth, Universität Luxemburg
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 17.03.2017

In der Sprachendebatte steht der Erwerb der Muttersprache meist im Fokus. Mindestens so wichtig sei die erste Schriftsprache, sagt Sprachwissenschaftlerin Constanze Weth vom Institut für Mehrsprachigkeitsforschung der Uni Luxemburg.

D’Lëtzebuerger Land: In der Sprachdebatte wird häufig das Bild vom Kleinkind bemüht, das Sprachen aufsaugt wie ein Schwamm. Ist das so?

Constanze Weth: Ein Kleinkind, das in eine monolinguale Sprachgemeinschaft hineingeboren wird, zum Beispiel in eine luxemburgischsprachige, lernt die Sprache auf natürliche Weise. Wird es in eine Sprachgemeinschaft geboren, in der mehrere Sprachen gesprochen werden, wird es diese ebenfalls lernen. Die Forschung geht davon aus, dass Kleinkinder parallel relativ mühelos bis zu drei Sprachen lernen können, die in ihrem sozialen Umfeld gesprochen werden.

Sprechen lernen ist aber nicht dasselbe wie Schreiben.

In der Schule lernen Kinder eine „Bildungssprache“, die neue formale Anforderungen an Sprache stellt. In dem erwarteten Endprodukt, einem Aufsatz, einer Präsentation, geht es nicht mehr um das Kommunizieren im vertrauten Kreis, sondern darum, sich einem unbekannten Personenkreis mitzuteilen. Das bedeutet, ein Kind braucht mehr Wörter, es muss grammatische Strukturen erkennen lernen und es muss lernen, seine Texte zu überarbeiten.

Kinder kommen in unserem Schulsystem zunächst mit Luxemburgisch in der Spillschoul in Berührung. Dabei geht es nicht um Grammatik.

Das ist für Kindergarten und Vorschule auch völlig in Ordnung. Allerdings bedeutet das für ein Kind, dass es in dem neuen Umfeld möglicherweise mit einer ihm unbekannten Sprache konfrontiert ist. Darauf muss sich das Erziehungspersonal einstellen.

Allgemein wird davon ausgegangen, dass Luxemburgisch in Vorschule und Kindergarten als Brücke zum Erlernen von Deutsch in der Grundschule dient. Stimmt das?

Man muss kein Luxemburgisch können, um Deutsch zu lernen. Geht man jedoch davon aus, dass Luxemburgisch eine germanische Variante ist, dann verstehen luxemburgischsprachige Kinder andere germanische Varianten, wie das Schrift- beziehungsweise Hochdeutsch, relativ leicht. Sie können verstehen, welche Wörter und Strukturen ähnlich und welche anders sind, sowie Gemeinsamkeiten übertragen. In dem Sinne ist es für sie leichter, Deutsch zu lernen, als etwa für ein Kind, das mit Chinesisch oder Arabisch aufwächst.

Gilt das so absolut? Schließlich sprechen viele Kinder zuhause kein Luxemburgisch und müssen es wie eine Fremdsprache lernen.

Für Kleinkinder, die mit Luxemburgisch aufgewachsen sind, ist der Wechsel ins Deutsche in der Regel kein Problem, zumal wenn sie zuhause deutsche Kinderbücher lesen, deutsches Fernsehen läuft oder sie sonst mit Deutsch in Kontakt kommen. Für Kinder, die in Luxemburg aufwachsen, aber wenig mit Deutsch in Berührung kommen, könnte der Wechsel vom Luxemburgischen zum Deutschen zum Problem werden. Ein Kind aber, das zuhause Arabisch spricht und mit unterschiedlichen Varietäten seiner Sprache aufwächst, wird eventuell wissen, dass gesprochenes Arabisch und geschriebenes sich unterscheiden und dieses Wissen kann ihm beim Wechsel von Luxemburgisch auf Deutsch helfen. Weiß es das nicht, wird es schwieriger.

Was bedeuten vielfältige Sprachhintergründe für Lehrer, die Kinder in die Bildungssprachen einführen sollen?

Es gibt nicht die eine richtige Sprachförderung. Wichtig ist, dass Kinder früh mit Büchern in Kontakt kommen, dass Erzieher und Lehrerinnen sprachlich mit den Kindern interagieren und Strukturen erklären. Das braucht Zeit, Geduld und kleine Gruppen. Es gibt Fördermaterialien, mit denen Kinder spielerisch ein Bewusstsein für Sprache entwickeln können.

Oft wird die Bedeutung der Erstsprache betont. Sie müsse erst gefestigt sein, bevor weitere Sprachen gelernt werden können, heißt es.

Sprachwissenschaftler sind sich nicht einig, welche Bedeutung genau die Erstsprache beim Erlernen weiterer Sprachen hat und welche die erste Schriftsprache. Meiner Ansicht ist letztere entscheidend. Mit dem Schreibenlernen lernen Kinder nicht nur die Schrift, sondern auch eine neue Art sich auszudrücken. Kinder müssen lernen, dass diese „Bildungssprache“ eine andere Struktur hat als das Sprechen mit engen Freunden. Studien zum Muttersprachenunterricht haben gezeigt, dass sich dieser hier positiv auswirken kann. Geht er aber nicht auf die Sprachsituation der Kinder im Einwanderungsland ein, kann er auch kontraproduktiv sein: wenn beispielsweise in einer Türkisch-Klasse kurdisch- und türkischsprachige Kinder sitzen und das Lehrpersonal diese Sprachhintergründe nicht berücksichtigt.

Man kann schlecht von Lehrern verlangen, sämtliche Sprachsysteme, die in einer Klasse versammelt sind, zu kennen. Zumal in einem Einwanderungsland wie Luxemburg.

Das stimmt. Ein Lehrer sollte aber verstehen, dass ein Kind aus einer Einwandererfamilie völlig andere Voraussetzungen hat, und er sollte den nationalen normativen Blick auf die eigene Sprache hinterfragen. Ein Kind in Portugal lernt Portugiesisch nicht nur durch die Familie: Bücher sind Portugiesisch, das Fernsehen, die Schulbildung, alles ist auf Portugiesisch. In Luxemburg ist dem nicht so. Lusophone Kinder hierzulande haben daher einen andere sprachlichen Hintergrund als ihre Alterskameraden in Portugal. Das müssen Lehrer berücksichtigen.

Einfach nur die Erstsprache zu fördern, um ein Fundament für Mehrsprachigkeit zu haben, reicht also nicht?

Nein, denn Sprache funktioniert nicht wie Betonblöcke, bei dem einer auf dem anderen aufbaut. Jede Sprache hat verschiedene Varietäten und wird je nach Kontext und Person und Umfeld unterschiedlich gesprochen. Das gilt für sämtliche Sprachen. Das macht Sprachenlernen so kompliziert.

Was brauchen Lehrer, um Schüler mit unterschiedlichen Sprachhintergründen auf unser mehrsprachiges Schulsystem vorzubereiten?

Lehrer brauchen ein großes Wissen über Sprachvarietäten und darüber, was es an Sprachkompetenzen braucht, um in dieser mehrsprachigen Gesellschaft zu bestehen. Das ist abhängig von sozialen Normen und Konventionen und könnte in anderen Gesellschaften anders sein. Darüber hinaus müssen Lehrer Methoden kennen, wie sie Vokabeln beibringen, sie müssen Satzstrukturen erkennen und vermitteln können und sie müssen wissen, dass diese immer funktional gebunden sind an bestimmte Sprachen-
situationen. Dass man Grammatik nicht losgelöst vom Kontext paukt – und anschließend wendet man sich wieder der Sprache zu. Wörter und Grammatik sind das Fundament, um sich sprachlich auszudrücken, in welcher Sprache auch immer. Um Transfermöglichkeiten zwischen Sprachen zu nutzen, muss man wissen, welche Strukturen in Sprache 1 denen in Sprache 2 ähneln – und welche nicht.

Wissen das unsere Lehrer denn nicht?

Das Problem ist, dass hiesige Lehrer Deutsch vom Luxemburgisch kommend oft implizit gelernt haben und nicht explizit als Fremdsprache. Viele Lehrer können daher nicht sicher genug erklären, wie ein deutscher Satz funktioniert, was seine Verbstellung ist, wie Negation aufgebaut ist und wie die Pluralbildung funktioniert. Außerdem wird von angehenden Lehrern neben Kenntnissen zum deutschen, französischen und luxemburgischen Spracherwerb erwartet, den Lehrplan zu kennen, sie sollen Lerntheorien kennen, unterschiedliche Didaktiken beherrschen, sie sollen psychologische Fundierungen über das Lesen- und Schreibenlernen kennen, wissen, was familiäre Mehrsprachigkeit bedeutet und wie man Kinder zum Lesen motiviert. Das ist eine ganze Menge.

Sie plädieren dafür, Deutsch als Zweitsprache zu unterrichten und nicht als Muttersprache?

Eindeutig ja. Es ist elementar, zu wissen, wie Deutsch als Sprache funktioniert. Kinder müssen lernen, wie richtige Sätze gebildet werden, wenn sie später Deutsch als Bildungssprache im Unterricht nutzen sollen. Bei vielen Lehrern ist die Bewusstheit für Satzstrukturen eher im Französischen ausgeprägt, weil sie die Sprache als Fremdsprache gelernt haben. Im Deutschen fehlt sie ihnen, dabei bildet Deutsch als Alphabetisierungssprache die Grundlage für die Schriftsprache und ist Voraussetzung für ein Sprachbewusstsein, das absolut wesentlich für das Erlernen weiter Sprachen und der zugrundeliegenden Regeln ist.

Was sagen Ihnen angehende Lehrer? Wo hakt es?

Manche bedauern, dass der Austausch zwischen den Zyklen nicht gut funktioniert. Nicht immer ist klar, worauf ein nächster Zyklus aufbaut. So entstehen blinde Flecken und manch ein Lehrer behilft sich dadurch, eigene Schwerpunkte zu setzen: Weil sie wissen, dass ihnen kaum Zeit bleibt, dass Kinder nicht alle erforderten Sprachen gleich gut können werden, konzentrieren sie sich darauf, wenigstens Luxemburgisch zu stärken. Andere versuchen, ihre Kinder in Teilbereichen zu fördern. Wieder andere bereiten die Kinder so gut es geht auf die Épreuves communes vor, weil sie bei der Orientierung in die Sekundarstufe eine Schlüsselrolle spielen.

Und was ist Ihre Antwort als Ausbilderin?

Studien zeigen, dass selbst Schüler im einsprachigen System Schwierigkeiten haben, Lesen und Schreiben zu lernen. Es ist ein komplexer Lernvorgang, der komplexe Techniken verlangt. Manche können mehrere Sprachen sprechen, aber um eine Sprache „bildungssprachlich“ zu beherrschen, braucht es einen größeren Wortschatz und Kenntnisse über die jeweiligen Regeln in einer Sprache. Das braucht Zeit. Als Linguistin konzentriere ich mich darauf, angehenden Lehrern zu zeigen, wie sie Kindern die Regelhaftigkeiten von unterschiedlichen Sprachen bewusst machen können. Da gibt es in Luxemburg auch einige viel versprechende Projekte. Man muss sie nur ausbauen.

Constanze Weth ist Linguistin an der Uni Luxemburg. Sie bildet dort Grundschullehrer aus und unterrichtet am Weiterbildungsinstitut Ifen in Walferdingen.

Ines Kurschat
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