Chèques-service

Der gute Schein trügt

d'Lëtzebuerger Land du 29.05.2008

Mütter und Väter werden bei der diesjährigen Rede zur Lage der Nation aufgehorcht haben. Anstatt das Kindergeld pauschal zu erhöhen, ver­sprach Premierminister Jean-Claude Juncker ab nächstem Jahr Dienstleistungsgutscheine, so genannte chèques services, einzuführen. Sie sollen es Fa­milien mit Kindern erlauben, Betreu­ung und Bildung in Krippen, Kindergärten und Maisons Relais einzukaufen. Damit nicht genug: „A terme ass et fir mech kloer datt Kannerbetreiung zu Lëtzebuerg muss gratis ginn“, machte Juncker all denen Hoffnung, die die Beitragssätze derzeit nicht zahlen können oder wollen. 

Bis es dazu kommt, wird es aber noch eine ganze Weile dauern. Denn noch ist völlig unklar, wie das Gutscheinsystem funktionieren, wer es finanzieren – und wer davon überhaupt in welchem Umfang profitieren soll. Es sieht jedenfalls so aus, als setze die schwarz-rote Regierung mit den chèques services den mit dem Kinderbonus begonnenen Paradigmenwechsel fort: Statt Geldleistungen mit der Gießkanne zu verteilen, werden Geld- und Sachleistungen an besonders Bedürftige vergeben. Der Kinderfreibetrag, von denen Besserverdiener stärker profitieren als jene, wurde zugunsten des Kinderbonus’ abgeschafft. „Dadurch ist aber nicht sicher gestellt, dass das Geld auch effektiv bei den Kindern ankommt“, so Mill Majerus vom Familienministerium. Das sollen nun die Schecks besorgen. 

Doch zunächst herrschen Verwirrung und Rätselraten. Die Initiative des Syvicol, auf die LSAP-Fraktionspräsident Ben Fayot am Dienstag in seiner Antwort auf Juncker verwies und über die eine Arbeitsgruppe zwischen Syvicol, Familien- und Erziehungsministerium derzeit berät, hat mit sozialer Selektivität nicht viel gemein. Sie sieht vor, dass sämtliche Eltern ihr Kind sieben Stunden wöchentlich gratis in den Strukturen unterbringen können. Für die Mehr­kosten kämen die Gemeinden auf, vorausgesetzt allerdings, so der Syvicol, der Staat übernimmt im Gegenzug die Gehälter der Grundschullehrer. Derzeit tragen die Gemeinden ein Drittel der Kosten, weil aber in der Reform des 1912-er-Gesetzes vorgesehen ist, dass der Staat künftig das Personal nominiert, soll er auch die Kosten übernehmen, argumentiert der Gemeindeverbund. „Ohne diese Vorbedingung werden die Gemeinden keine Gratisangebote machen können“, mahnt Syvicol-Vizepräsident Dan Kersch die Regierung.

Vieles spricht jedoch dafür, dass Familienministerin Marie-Josée Jacobs (CSV) den Syvicol-Vorschlag wohl eher nicht gemeint hat, als sie vor drei Wochen auf einer Caritas-Konferenz Junckers Rede vorwegnahm und die Umstellung auf Betreuungsgutschei­ne angekündigte. Details nannte auch sie nicht, nur so viel verriet Jacobs: Internationale Studien zufolge nutzen einkommensschwache Familien gebührenfinanzierte Kindertagesstättenplätze seltener, gerade ihnen soll das Gutscheinverfahren den Zugang erleichtern – ohne dabei die Empfänger zu stigmatisieren. Bis September will das Familienministerium erste Modelle durchrechnen.

Wie kniffelig die Aufgabe ist, zeigen Erfahrungen im Ausland. Als Hamburg als erste deutsche Stadt 2003 die „Kita-Card“ einführte, wollte der CDU-geführte Senat zwei Fliegen mit einer Kappe schlagen: Väter und Mütter sollten ihre bevorzugte Betreuungsstruktur einerseits frei wählen können und somit der Wettbewerb zwischen den einzelnen Einrichtungen verstärkt werden. Andererseits sollten nach Betreuungszeiten gestaffelte Gutscheine sowie eine Prioritätenliste dafür sorgen, dass Eltern aus sozial benachteiligten Schichten vom Kindergartenangebot verstärkt profitieren: Alleinerziehende und Familien, in denen beide Eltern voll berufstätig sind, hatten Anrecht auf eine Ganztagsbetreuung, Arbeitslose hingegen und Familien, in denen ein Elternteil ganz arbeitete, bekamen dagegen lediglich Gutscheine für eine Halbtagsbetreuung zugesprochen. 

Der Ansturm war dennoch gewaltig, so dass schon nach wenigen Monaten das Budget ausgeschöpft war und die völlig überforderten Behörden die Gutschein-Ausgabe stoppen mussten. Tausende von Eltern konnten ihre Gutscheine infolge des knappen Kin­dergartenangebots nicht fristgerecht einlösen, sie landeten, wie zuvor, auf ellenlangen Wartelisten. Dort hofften sie dann, doch noch irgendwann einen der begehrten Plätze zu ergattern. Weil aber Kindergartenträger Planungssicherheit brauchen, nahmen sie bevorzugt Kinder mit Ganztagsgutscheinen auf – und die kamen zumeist aus besseren Verhältnissen. Ausgerechnet Einwandererfamilien, in denen  der Vater öfters als einziger erwerbstätig und die Mutter zu Hause bei den Kindern ist, hatten das Nachsehen. 

Nicht ausgeschlossen, dass solche Ne­beneffekte auch in Luxemburg auftreten. Expertenschätzungen zufolge fehlen derzeit mindestens 24 000 Kindergartenplätze. Würde die Gratisbetreuung jetzt eingeführt, wäre „Chaos vorprogrammiert“, so Majerus, der sich grundsätzlich vorstellen kann, dass „Eltern eines Tages je nach Wunsch auch andere Dienstleistungen“ (Internat, Ferienkolonien) per Scheck bezahlen. Das eigentliche Pro­blem, vor allem die Bedürftigen – Arbeiter- und Einwandererkinder – versorgen, ist damit aber nicht gelöst. Erfahrungsgemäß greifen portugiesische Familien eher auf preiswer­tere, nicht qualifizierte Tagesmütter zurück. Daran ändert auch der massive Ausbau der Strukturen wenig, wie aktuelle Zahlen belegen. In Esch besuchten gerade einmal 37 Prozent der nicht eingeschulten Kinder Maisons relais. „Ein Gratis-Gutschein könn­te ein Anreiz sein“, hofft Dan Kersch vom Syvicol. In seiner Rede hatte sich der Staatsminister auf die Einrichtungen beschränkt. „Das Ganze macht nur Sinn, wenn wir die Tagesmütter und -väter einbeziehen“, meint Mill Majerus. Erste Kontakte zwischen Maisons relais und Tagesmüttern bestünden schon. 

Noch eine weitere politisch brisante Frage bleibt zu klären: die nach der Ausrichtung des Betreuungsangebots. Die katholische Wohlfahrtsorganisation Caritas hält schon heute rund 80 Prozent aller Maisons relais; im kürzlich vorgestellten Sozialalmanach 2008 spricht sie sich für chèques services aus. Die Schecks waren auch schon Thema zwischen dem Familienministerium und der Caritas, die zu den Gewinnern einer solchen Bezahlweise zählen dürfte: Als größter Anbieter kann sie Elternwünsche nach größtmöglicher Flexibilität bei den Betreuungszeiten am besten bedienen und bei Schwankungen in der Nachfrage, etwa zur Ferienzeit, Personal auch mal kurzfristig umsetzen. Auch sonst hat der Wohlfahrtsriese die Nase vorn: Er hat Experten engagiert, um Konzep­te und Qualitätsstandards auszuarbeiten; laut Gesetz bestimmt der Trä­ger über das pädagogische Konzept seiner Einrichtung. Vor allem die Frühförderung und die Bildung haben es der Caritas angetan, sie wirbt neuerdings  fleißig für eine enge Ver­zahnung von Schule und Maison relais. Immer mehr Gemeinden gehen dazu über, Krippen in Maison-relais-Strukturen zu integrieren und sie direkt bei den Schulen anzusiedeln. Was im Hinblick auf Synergien beim Bau, Transport und Personal sinnvoll erscheint, beschneidet aber zugleich die Wahlfreiheit. Und bedeutet letztendlich, dass die christliche Wohlfahrtsorganisation mehr und mehr Einfluss auf wichtige Erziehungs- und Bildungsfragen nimmt, für die bislang stets der – neutral gedachte – Staat zuständig war. Aber das ist ein anderes Thema. 

Ines Kurschat
© 2023 d’Lëtzebuerger Land