Die Abgeordneten befürchteten eine Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen und suchten prompt Trost bei Experten

Kopernikanische Wende

d'Lëtzebuerger Land du 07.11.2014

Vor vier Monaten verabschiedete das Parlament mit einer überwältigenden Mehrheit von 55 gegen fünf Stimmen das Gesetz über die Koordinierung und die Verwaltung der öffentlichen Finanzen. Mit dem Gesetz unterwarfen sich die Abgeordneten einer im europäischen Stabilitätspakt und im europäischen Six-Pack vorgesehenen Defizitbremse, einem mittelfristigen Haushaltsziel und einem mittelfristigen Finanzrahmen samt Korrekturautomatismus (d’Land, 4.7. und 11.7.14). Dadurch schränkten sie ihre eigenen verfassungsmäßigen Vorrechte bei der Festsetzung der Staatsfinanzen und damit der Politikgestaltung im Land weiter ein.

Ganz geheuer war das nicht einmal den Befürwortern von DP, LSAP, Grünen und CSV gewesen. Denn sie weigerten sich, der Defizitbremse Verfassungsrang einzuräumen; Finanzminister Pierre Gramegna (DP) war stolz darauf, dass man noch „der Regierung einen gewissen Spielraum und dem Parlament einen gewissen Spielraum“ herausgeschlagen habe; die grünen Abgeordneten hatten noch ein Jahr zuvor in der Opposition gegen den ganzen Fiskalpakt gestimmt. Und wie immer, wenn es unangenehme politische Entscheidungen zu rechtfertigen gilt, leistete sich die Kammer eine Art Audit: einen Bericht darüber, wie viel und welche Autonomie ihr noch bleibt.

Die Autoren dieses Les pouvoirs d’un parlement. La Chambre des Députés du Luxembourg überschriebenen Berichts sind die sonst mit den Wahlanalysen befassten Mitarbeiter des Lehrstuhls für Parlamentarismusforschung an der Universität Luxemburg.Der 2011 geschaffene Lehrstuhl wird von der Abgeordnetenkammer finanziert; am Montag dieser Woche unterzeichneten Kammerpräsident Mars Di Bartolomeo und Universitätsrektor Rolf Tarrach eine neue Konvention, um die Finanzierung bis 2018 fortzusetzen.

Der Bericht lässt keinen Zweifel daran, dass der im Juli beschlossene Verzicht auf einen Teil der Budget­hoheit nur ein vorübergehender Höhepunkt einer inzwischen international als Entparlamentarisierung bezeichneten Entwicklung ist. Herausgeber Philippe Poirier sieht sie mit dem vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg deutlichen Aufkommen des Sozialstaats, eines einflussreichen öffentlichen Dienstes und der Mitsprache sozialpartnerschaftlicher Gremien beginnen (S. 33). Aber vielleicht begann der Machtverlust der Kammer bereits nach dem Ersten Weltkrieg, als Reaktion auf die Einführung des Allgemeinen Wahlrechts. Das Wahlrecht den besitzlosen Kassen zuzugestehen, war schließlich mit Unwägbarkeiten verbunden, gegen welche es die bestehenden Verhältnisse zu schützen galt. Allzu viel Demokratie kann mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden sein.

Für die derzeitige Entparlamentarisierung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialpolitik macht Poirier die als „Neokorporatismus“ bezeichnete Sozialpartnerschaft und Tripartite, die europäischen Haushaltsauflagen, den Rückgriff auf Experten und Ausschüsse sowie die externe Bewertung der Politik verantwortlich (S. 272). Die Tripartite, das Konjunkturkomitee und der Rentendësch hätten das Parlament dazu verurteilt, wirtschafts- und sozialpolitische Entscheidungen bloß noch gutzuheißen.

Inzwischen fänden zwar keine Tripartite-Verhandlungen mehr statt, aber nun nehme der 2011 unterzeichnete europäische Stabilitätspakt zumindest in der entscheidenden Haushaltspolitik den nationalen Parlamenten das gesetzgeberische Initiativrecht weg, das Kontrollrecht falle den europäischen Institutionen und Strukturen zu, und der Respekt der parlamentarischen Vorrechte beschränke sich auf die Prozedur und nicht den Inhalt des Staatshaushalts (S. 367). Bei den Prozeduren des Six-Pack zur Finanzpolitik sei die Rolle der nationalen Parlamente geradezu marginal geworden (S. 369).

Doch während das Parlament an politischem Einfluss einbüßt, regelt und strukturiert es seine Arbeit seit den Sechzigerjahren immer stärker bis hin zu einer „Inflation“ von Hausordnungsvorschriften (S. 131). Das Kammerreglement schwoll an, die Ausschüsse, Fraktionen und später technischen Gruppen wurden geregelt, die Zuständigkeit des Kammerbüros wurde ausgeweitet. Mit einer verstärkten Kontrolle des Staatshaushalts und des Nachrichtendienstes sowie einer Absprache mit der Regierung in europapolitischen Fragen wurde aber auch eine Reparlamentarisierung versucht (S. 152).

Getreu dem historischen Prinzip „No taxation with­out representation“ stellt die Haushaltspolitik das entscheidende Vorrecht des Parlaments dar. Der Bericht beschränkt rasch die parlamentarische Rolle in der Haushaltspolitik auf die Budgetkontrolle, doch Artikel 104 der Verfassung bestimmt, dass das Parlament den Haushalt beschließt und nicht bloß die Konten gutheißt. Aber in Zeiten der europaweit institutionalisierten Austeritätspolitik scheinen die Staatsfinanzen zu wichtig, um sie den Unwägbarkeiten der parlamentarischen Demokratie auszuliefern. Auch wenn schon lange zuvor die manchmal ausschweifenden Budgetdebatten, an denen ausnahmsweise fast alle Abgeordneten beteiligt waren, auf die Stellungnahmen einiger mandatierter Sprecher verkürzt wurden: 1980 dauerten die Haushaltsdebatten noch mehr als einen Monat, vom 11. November bis zum 17. Dezember; dagegen vergingen 2010 vom Haushaltsbericht bis zur Abstimmung gerade drei Tage, vom 7. bis 9. Dezember.

Die Entparlamentarisierung der Finanzpolitik wird stets mit der Modernisierung und Rationalisierung gerechtfertigt, und sie geht weiter: Im Haushaltsentwurf für nächstes Jahr legte die Regierung Hunderte Haushaltsposten zusammen, so dass nur noch der zuständige Minister weiß, für welche Zwecke die entsprechenden Mittel aufgeteilt werden. Vor allem aber schloss die DP/LSAP/Grünen-Koalition das Parlament, trotz dessen Budgethoheit und trotz aller anderslautenden Versprechen, bisher vollständig von der Ausarbeitung einer neuen Haushaltsprozedur aus. Das angekündigte „Budget der neuen Generation“ soll mit Hilfe privatwirtschaftlicher Buchhaltung auch in einer „kopernikanischen Wende“ die Exekutive auf Kosten der Legislative stärken.

War also die parlamentarische Demokratie eine schöne Illusion, die mit dem Ende des Kalten Kriegs hinfällig wurde, und brechen nun postdemokratische Zeiten zur Verwaltung des globalen Standortwettbewerbs an? Wenn das Parlament, wie zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wieder ein „rubber-stamp parliament“, eine „chambre d’enregistrement“ zu werden droht, war das vielleicht unausgesprochen erst die Voraussetzung, um das legislative Ausländerwahlrecht zu gewähren?

Der Bericht betrachtet das Parlament weniger vom Standpunkt der repräsentativen oder der Demokratie schlechthin, als von demjenigen der Gouvernance, der dem privatwirtschaftlichen Management entlehnten, optimierten Herrschaftstechnik. Deshalb kann er sich auch tröstlich geben: Die Entparlamentarisierung sei gar nicht so schlimm, denn das Parlament habe schon immer auf Vorrechte zugunsten der Regierung und des Staatsrats, des Zollvereins und der Ceca, der Berufskammern und der Tripartite verzichtet. Die Entparlamentarisierung sei zudem kein unumkehrbarer Prozess, denn das europäische Recht gewähre dem Parlament auch neue Möglichkeiten. Ja, Wahlgesetz, Parteienfinanzierung, Ermittlungsausschüsse und Kammerreglement stellten eines der originellsten parlamentarischen Rechte in Europa dar. Wenn diese Möglichkeiten ausgeschöpft würden, könnte die parlamentarische Autonomie in kaum einem anderen Land so gut funktionieren wie in Luxemburg (S. 556).

Aber wer will das schon? Schließlich scheint die Entparlamentarisierung nicht nur von Nachteil zu sein. Denn Philippe Poirier hält es für erwiesen, dass beispielsweise das, was er Europäisierung der politischen Entscheidung und Gesetzgebung nennt, mit großen Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre, wenn die nationalen Parlamente während der europäischen Integration mehr mitzureden gehabt hätten (S. 49). Das gleiche gilt wohl heute für die Erzwingung des strukturellen Haushaltsüberschusses. Die Finanz- und Wirtschaftskrise stelle deshalb eine Chance zur Reparlamentarisierung dar, weil die Regierung sich einzig auf das Parlament stützen könne, um radikale Reformen vorzunehmen, auf die sich die Sozialpartner nicht einigen könnten (S. 271).

Philippe Poirier (Hg.), Les pouvoirs d’un parlement. La Chambre des Députés du Luxembourg, Promo­culture Larcier, Luxemburg 2014, 578 S., 60 Euro
Romain Hilgert
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