Der Jugendschutz eignet sich schlecht zum Wahlkampf

Im Wartestand

d'Lëtzebuerger Land vom 12.02.2009

Die Zeit drängt. Bis Juni dieses Jahres, sechs Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Jugendhilfe, soll dessen wichtigste Neuerung, das Office national de l’enfance (ONE) seine Arbeit aufnehmen. Allen Gerüchten im Sozialsektor zum Trotz, wo diverse Namen die Runde machen, ist noch keine Person für den wichtigen Leitungsposten gefunden. Derweil arbeitet eine Arbeitsgruppe – bestehend aus Beamten des Familienministeriums und Fachleuten aus dem Sektor – unter Hochdruck daran, dem neuen „Jugendamt“ ein klares Profil zu geben. 

Das ist auch notwendig, denn in dem im November verabschiedeten Rahmengesetz steht außer der Mission und möglichen Mitarbeitern nicht viel drin. Von einer „zoue Këscht“ hatte Déi Gréng-Abgeordnete Vivi­anne Loschetter in ihrer Parlamentsrede damals gesprochen. Die Unklarheiten waren der Hauptgrund, warum insbesondere Grüne und Liberale geschlossen gegen das Gesetz stimmten. 

Das klingt nach Konfliktstoff, doch mit der Veröffentlichung des Rahmengesetzes ist die in den vergangenen Monaten schon lustlos geführte Debatte um den Jugendschutz nun vollends zum Erliegen gekommen. Der Eindruck drängt sich jedenfalls auf, wenn man die Wahlprogramme der politischen Parteien liest. Die strotzen beim Thema Jugendschutz nicht gerade vor Ideenreichtum – und gehen in ihren Hauptforderungen auch nicht weiter als das, was die rot-schwarze Koalition in das Jugendhilfegesetz eingeschrieben hat.Für Déi Gréng sind die Kinderrechte und der Jugendschutz nach wie vor „eine politische Priorität“. Viel mehr, als „die Heimstrukturen und die dazu gehörigen sozialen Dienste“ besser aufeinander abzustimmen und „Jugendlichen in Not schnellere Hilfe“ anzubieten, fällt ihnen aber auch nicht ein. Visionäre Entwürfe für eine Grundsatzreform des Jugendschutzes sucht man vergeblich. „Die Bereiche Jugendschutz und Jugenddelinquenz trennen, damit in beiden Bereichen besser und adäquater geholfen werden kann“, wollen Déi Gréng. Wie, lässt das Programm offen. Dabei waren es die Grünen, die 2000 mit einem umfassenden Reflexionspapier Halte à la violence institutionelle! maßgeblich die bisherige Praxis der Jugendschutzes hinterfragten. Im Land-Gespräch bezeichnet Vivianne Loschetter die damalige grüne Forderung nach dezentralen Hilfsangeboten als „weiterhin aktuell“. Auch die Forderung nach mehr Koordination sei noch immer gültig, schließlich sei völlig unklar, ob das Rahmengesetz die gehegten Erwartungen, sprich, eine Neustrukturierung des Sektors in Richtung mehr Prävention und raschere Hilfe, werde erfüllen können, so Loschetter weiter.

In der Tat schossen viele Hilfsangebote wie Pilze aus dem Boden, manche arbeiten bis heute ohne erkennbares Konzept. Die Zusammenarbeit zwischen den Einrichtungen klappt noch immer nicht wirklich, und die Qualitätskontrolle ist unterentwickelt. Erst als mit der Einrichtung einer Spezialkommission der politische Druck wuchs, begannen die Heimleitungen sich eigene Qualitätsstandards zu geben. Dass bei der Konzeptualisierung des ONE Vertreter der Heime mit am Tisch sitzen, hilft vielleicht, das unübersichtliche Dickicht zu lichten – wenn man sich denn einig wird. Die Wirksamkeit des ONE steht und fällt mit dem Personal, das ihm zugewiesen wird. Qualifizierte Fachkräfte aber sind knapp – und kosten viel Geld. 

Bemerkenswerterweise wird auch das in den Wahlprogrammen nicht thematisiert. Nachdem das Familienministerium den größten Zankapfel, die komplette Umstellung des Sektors von der Restrisikofinanzierung auf fallbezogene Leistungspauschalen, zu­­rückgenommen und den Heimleitun­gen die Wahlfreiheit zwischen beiden Finanzierungsmodellen gelassen hat, ist das finanzielle Argument aus der Debatte gänzlich verschwunden. Vergessen scheint die Warnung der Caritas, die Neustrukturierung des Sektors könne als Versuch des Staats gelesen werden, mit dem Jugendamt mehr Kontrolle über die Kostenentwicklung zu bekommen. In Deutschland häufen sich derzeit Klagen, Mitarbeiter des Jugendamts würden durch anhaltendem Kostendruck zu „Sparkommissaren“ degradiert. Im Hinblick auf die Finanz- und Wirtschaftskrise hätten die Parteien diese Sorge aufgreifen können, doch auch der LSAP fällt zum Thema ONE nicht viel mehr ein, als eine Informationskampagne und eine Evaluation nach drei Jahren zu fordern. 

Nicht  einmal die Liberalen wollen sich am heißen Eisen Finanzierung die Finger verbrennen. Wohl auch, weil der Sozialsektor mit seinen rund 9 000 Angestellten, ähnlich wie die Lehrer, eine nicht  zu unterschätzende Wählerklientel darstellt. Zudem eignen sich schwer erziehbare Jugendliche – außer zur Empörung, wenn wieder ein Minderjähriger ins Erwachsenengefängnis in Schrassig eingesperrt wird – eher schlecht zur politischen Profilierung. 

Andererseits, und das erklärt wohl auch die dünne Debatte im Vorfeld des neuen Gesetzes, fehlt es an Sachverstand. Wenn sich schon der Sektor kaum zu den künftigen Herausforderungen äußert, warum sollten es die Politiker tun können? Die CSV wird, ebenso wie die ADR, ihr Wahlprogramm wohl erst im April vorstellen. Viel Neues ist kaum zu erwarten.

Vielleicht liegt die allgemeine politische Ratlosigkeit aber auch daran, dass niemand genau weiß, was aus  den Kindern wird, die Tag um Tag im Land Erziehungshilfe empfangen und was diese bringt – ein Armutszeugnis für die Verantwortlichen, immerhin erhalten allein die Heime rund 25 Millionen Euro jährlich. Eine Hausaufgabe des Gesetzgebers an den Sektor lautet daher, endlich die nöti­gen Daten zu erheben: Ein kürzlich gestarteter Anlauf scheiterte Insider­informationen zufolge jedoch kläglich. 

Ines Kurschat
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