Totengedenkanlässe

Blowing in the wind

d'Lëtzebuerger Land vom 14.11.2014

Ich weiß, ich bin etwas verspätet, Totsein war schon, Gräber waren schon, und wer zu spät kommt, den bestraft der Tod, raus hier aus der Kolumne!

Aber ich will noch schnell daran erinnern, bevor das Winterloch das mit heidnischen Gags und glühendem Gesöff vollgestopft ist, uns schluckt. Es dauert nicht mehr lange, und eine Weihnachtsmannmütze wird uns übergestülpt. Oder auch nicht, und dann fühlen wir uns möglicherweise auch nicht besser.

Deshalb kurzer Schritt zurück, noch mal raschelraschel durch den Herbstwald stapfen, den guten Humus, was wären wir ohne den, liebe Kinder! Manchmal segelt ein Blatt auf eine Glatze. Eine Mahnung mit auf den Weg geben und eine Besinnlichkeit, und etwas von Vorfahren murmeln. Die auf einem Friedhof ruhen, den wir eher selten aufsuchen, weil, wir glauben nicht so richtig dran. Oder wir glauben zu sehr dran, und dann können wir erst recht nicht hin. Was sollen wir den Nachfahren erzählen, da unten, liebe Nachfahren, liegen eure Vorfahren, meist unter einer ausbruchsicheren Steinplatte oder etwas, das alle Marmor nennen und keinen keinen Dreck macht. Vielleicht habt ihr den einen oder die andere Resident_in des Gottesackers, wie man früher so schön sagte, noch gekannt, vielleicht sogar geliebt, was es nicht einfacher macht.

Damals gab es kein Halloween, nicht einmal Kino und Disco, liebe Urenkel_innen, könnt ihr euch so was vorstellen? Nur welkes Laub, Nebel, Weihwasser, Segen, Seufzer. Jetzt ist bekanntlich alles anders, frei wie die Liebe, aber ich glaube, freie Liebe sagt man nicht mehr. Wir leben in einer freien Gesellschaft mit einer freien Wirtschaft, und jedes macht mit sich selber aus, was es gut findet. Zum Beispiel sich vom Priester auf einem Gottesacker bemurmeln und bespritzen lassen, ist voll okay: Wer das tut, tut das freiwillig und bei vollem Bewusstsein und steht auch dazu. Wenn sie aber viel lieber eine Städtereise unternimmt und dann bemalte Totenschädel postet, was für putzige Bräuche die hier haben, oder sich an ein Meer legt, wird sie keineswegs an den Pranger gestellt oder enterbt.

Man muss nichts mehr müssen, wir sind frei, an die Toten denken können wir überall, auch in Disneyland, und jederzeit. Außerdem wohnen sie bekanntlich in unseren Herzen, wo könnten sie es besser haben!

Jetzt gibt es so viele Möglichkeiten und Angebote. Partyservice wird offeriert, mit den Lieblingssongs, es gibt lauschige Naturfriedhöfe und Kompartiments, in denen Lesben unter sich sind. Für alle Religionsgemeinschaften und Geschmäcker etwas, für die Atheist_innen selbstverständlich auch. Facebook hat einen Gedenkraum eingerichtet. Man kann sich in die Luft blasen lassen, zum Beispiel in Hamm, wobei die Option schlussendlich sehr enttäuschend ist. Die Asche muss brav auf dem Rasen bleiben, sie wird nicht vom Wind verweht. Sie darf nicht das Weite suchen, zumindest bis auf die Autobahn, was sicher für unsere Landsleute der passendste Exitus wäre. Aber wenigstens sind die Würmer ausgetrickst worden. Für die Häuslichen gibt es Urnen. Und neuerdings, ob in Hamm bin ich mir zwar nicht sicher, kann man sich zu einem Edelstein pressen lassen, der einem Lieblingsnachkommen um den Hals gehängt wird.

Manche Nachkommen, die oft genau so in der Welt verstreut sind wie die Asche der Vorfahren, erwähnen aber verdächtig oft das Wort „Identität“. Oder „Wurzeln“. Sie fangen an von Stammbäumen zu träumen und stöbern in vergilbten Fotos, irgendetwas, sich selber, möchten sie auf die Spur kommen. Sie wollen Beweise sehen, in Stein Gemeißeltes, hauchdünne Briefe mit verblasster Schrift.

Und manch eine überkommt die Eingebung, dass Menschen sich vielleicht genau dort verwurzelt fühlen, wo Mutter Erde seelenruhig die Ahn_innen verdaut. Sie ist darob verstört: Wurzeln, Mutter Erde, gehören die nicht ins Glatzen- und Keulenreich?

Manch einer dämmert, dass die Familienaufstellung rund um eine Marmorplatte vielleicht doch ein tröstlicher Brauch ist. Der den im Leben herum spukenden Einzelnen ein Minimum an Halt geben kann.

Besser Heuchelei als alles, als gar nichts.

Michèle Thoma
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