Kinderbetreuung

Macht des Faktischen

d'Lëtzebuerger Land du 26.06.2008

Er war seinen Gegenspielern wieder einmal einen Schritt voraus. Als Premierminister Jean-Claude Juncker (CSV) vor gut einem Monat in seiner diesjährigen Rede zur Lage der Nation den Eltern für die fernere Zukunft die kostenlose Kinderbetreuung in Aussicht stellte, dürften viele Sozialisten die Faust in der Hosentasche geballt haben. Schließlich gehört die Gratisversorgung mit Krippenplätzen seit vielen Jahren zu den zentralen Forderungen der LSAP.

Es ist nicht das erste Mal, dass die Partei bei einer solchen Herzensangelegenheit zuschauen muss, wie der christlich-soziale Koalitionspartner vorprescht und in ihrem Revier wildert: Bereits bei der Einführung der Maisons relais pour enfants (MRE) 2005 waren die Sozialisten im Hintertreffen. Ohne dass die Abgeordneten ein Wört­chen mitzureden hatten, hatte CSV-Familienministerin Marie-Josée Jacobs die Maisons relais ins Leben gerufen. Wegen der großen Nachfrage berufstätiger Eltern flexibleren Betreuungsstrukturen wurde der Ausbau außerschulischer Kinderhorte auf Gemeindeebene auch vom roten Koalitionspartner gut geheißen. Allerdings ohne sich groß Gedanken über Konzept und Umsetzung zu machen. 

Drei Jahre später sind die Maisons relais insofern ein Erfolg, als inzwischen rund hundert Einrichtungen mit über 11 700 Plätzen existieren. Bis 2013 sollen es 30 000 Plätze werden. Auch wenn Qualität und Angebot je nach Gemeinde arg schwanken – zumindest in der Theorie geht es bei den Betreuungseinrichtungen längst nicht mehr nur um reine „Verwahrung“ vor und nach der Schule mit Kantinen-Essen plus Laien-Hausaufgabenhilfe. Seit Monaten feilen Träger und Familienministerium mit Hilfe externer Berater an inhaltlichen Verbesserungen und an Qualitätsstandards für die außerschulische Ta­gesbetreuung. Ganz oben auf der Wunschliste der CSV-Ministerin steht „die gezielte Frühförderung“ und „die Förderung und Unterstützung spezifisch schulischen Lernens“. Nachzulesen im Sozialalmanach 2008, den die Caritas kürzlich herausgegeben hat. 

Dort preist unter der Überschrift Engagement für Sorgenkinder. Aufgabe der Maisons relais pour enfants und Kooperation mit der Schule Mill Majerus aus dem Familienministerium die Vorzüge der außerschulischen Tagesbetreuung an: Die MRE hätten wohl „Bildungsaufgaben, stehen dabei aber keineswegs unter dem Druck der Schule, bestimmte Programmziele innerhalb einer begrenzten Zeit mit allen Kindern zu erreichen“. Im Gegensatz zur Schule bräuchten die Er­zieher die Kinder nicht zu benoten. Angst und Leistungsdruck entfielen, weshalb in den MRE „für Kinder und ihre Eltern „ein Klima größerer Chancengleichheit“ bestünde. Eine Konkurrenz zur öffentlichen Schule seien die Strukturen aber nicht: Maison relais und Schule seien „komplementäre und gleichberechtigte Erziehungspartner“, so auch Familienministerin Jacobs, die die gute Zusammenarbeit mit der Unterrichts­-ministerin betont. 

Tatsächlich findet die Idee sich ergänzender, vernetzter Strukturen auch in der geplanten Reform des 1912-er-Grundschulgesetzes von LSAP-Ministerin Mady Delvaux-Stehres Niederschlag. Artikel 17 legt fest: „Il est donc indispensable, pour le développement de l’enfant, que s’instituent un dialogue et une concertation entre les enseignants et les éducateurs des maisons relais ou autres garderies“. Künftig sollen Gemeinden zudem erzieherisches Personal in den Grundschulen einstellen können. „Theoretisch“ sei damit der Weg zu mehr Ganztagsschulen frei, so Roby Brachmond aus dem Unterrichtsministerium. 

Dass das geschieht, bezweifeln jedoch Stimmen aus der LSAP. Sie werfen ihrer politischen Führung „fehlenden Weitblick“ in der Betreuungsfrage vor und fordern, den Zuständigkeitsbereich Erziehung vom Familien- ins Unterrichtsministerium zu verlagern, eine Auffasung, die auch der Staatrat in seinem Avis zum Gesetzentwurf der Aide à l‘enfance teilt. Nicht nur, dass die CSV-Familienministerin wiederholt betont hat, „keine Adeptin der Ganztagsschule“ zu sein. Seit 2005 hätten viele Gemeinden für teures Geld neue Betreuungsinfrastrukturen gebaut, die jetzt mit Leben und Inhalt gefüllt werden müssen – und da sei nun die katholische Wohlfahrtsorganisation Caritas, mit rund 80 Prozent Anteil der größte Träger der Maisons relais, im Vorteil. „Die Einrichtungen binden zudem finanzielle Ressourcen, die später für Ganztagsschulangebote fehlen“, so ein LSAP-Lokalpolitiker, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. 

Eben diesen Zielkonflikt hatte die Escher Abgeordnete Vera Spautz im Sommer 2005 vorausgesehen, als sie die intransparente Vorgehensweise des Koalitionspartners  und die „Tendenz zur Auslagerung und Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen“ anprangerte. Besonderer Dorn in ihrem Auge war die Personalregelung, die es Maisons relais erlaubt, Hilfsberufe wie die Aide socio-familiale oder in Crashkurs-Ausgebildete zu den 80 Prozent Qualifizierten zu zählen, die das Gesetz als Personalschlüssel für den Tagesstättenbetrieb vorschreibt. Um so anspruchsvolle Aufgaben wie die Förderung von Lernschwachen zu übernehmen, braucht es jedoch hoch qualifiziertes Personal. Grundsätzlicher ist jedoch die Kritik, dass sich die Maisons relais auf ein überkommenes, leistungsorientiertes Schulbild beziehen, das nicht zuletzt auch dank der LSAP im Wandel ist. Spautz bringt es auf den Punkt: „Wenn wir mehr Ganztagsschulen hätten, wären außerschulische Maisons relais streng genommen überflüssig“. Mit der Jean-Jaurès-Schule hat Esch die erste Ganztags-Grundschule über­haupt im Land eingerichtet. Als kostenlose öffentliche Schule richtet sich das Angebot besonders an Kinder aus sozial schwächeren Elternhäusern: Auf Hausaufgaben wird weitgehend verzichtet. Statt Frontalunterricht und Notendruck zu setzen, verstehen die dortigen Pädagogen Lernen als individuellen und zugleich ganzheitlichen Prozess; die Schule ist, neben dem Elternhaus, Lebensort, gemeinsames Essen und Erholungsphasen inklusive. Wozu aber dann ei­ne Maison relais, zumal Gebühren den Zugang erschweren? Für Spautz und andere liegt eine Antwort klar auf der Hand: Die Familienministerin will über die Betreuungsstrukturen auch ihren Einfluss in Erziehungsfragen ausdehnen. 

Doch selbst für die CSV ist die Sache so einfach nicht. Intern kritisieren wertkonservative Parteimitglieder den Ausbau der Kinderbetreuung als „Gefahr für das gesellschaftliche Fundament, die Familie“. Man habe noch keine gemeinsame Position erarbeitet, sagt Thérèse Gantenbein von der CSV vorsichtig auf Nachfrage des Land. Persönlich hält die schulpolitische Sprecherin nicht viel von ideologischen Scheuklappen: „Ausgangspunkt müssen die Bedürfnisse der El­tern und der Kinder sein“, betont sie. Ob gerade Letzteren mit den Maisons relais am besten gedient ist, daran äußert sogar Erziehungswissenschaftler Manfred Schenk vorsichtige Zweifel. Angesichts einer „Betreuungskette“ könnten Kinder zu „Wanderern zwischen den Institutionen Elternhaus, Schule, Betreuungseinrichtungen und organisierter Freizeit“ werden. Schenk, der für die Kinderbetreuung Caritas ein Qualitätskonzept entwickelt hat, spricht sich gleichwohl für eine engere Verzahnung von Tagesbetreuung und Schule aus. „Die Entscheidung für eine Ganztagsschule wird nochmals ganz neue Lösun­gen erfordern“, schreibt er im Sozial­almanach

.Genau diese politische Entscheidung ist bisher ausgeblieben. Mady Delvaux-Stehres, bekennende Befürworterin ganztäglicher Schulangebote, hat mit den Versuchsschulen Neie Lycée und Eis Schoul zwar das Tabu Ganztagsschule gebrochen, ein Konzept für eine landesweite Versorgung hat sie aber nicht vorgelegt. Was ihr von der grünen Opposition vorgeworfen wird – und zunehmend von den eigenen Parteikollegen. Dass es an Nachfrage nicht mangelt, haben die über 600 Anmeldungen auf die 110 Plätze  der Ganztagsschule Eis Schoul gezeigt. Angesichts sinkender Popularitätswerte und einem drohenden Streik der Grundschullehrer geht in der LSAP die Sorge um, die Partei könne sich am heißen Eisen Schulpolitik doch noch die Finger verbrennen. 

Ein „Tauschgeschäft“ soll das Problem zumindest teilweise lösen helfen. Die LSAP unterstützt den Gemeindeverband Syvicol in seiner Forderung, der Staat möge die Kosten für das Lehrpersonal ganz übernehmen, wenn er schon auf der zen­tra­len Ernennung der Grundschullehrer besteht. Das ge­sparte Geld könnten die Gemeinden dann für die – auf längere Sicht kostenfreie Betreuung verwenden – und Träger und Konzept frei wählen. Bisher haben die Beratungen zwischen LSAP und CSV jedoch zu keinem Ergebnis geführt. Der ideologische Kon­flikt zwischen Maison relais und Schulformen wie die Ganztagsschule ist allerdings kein Thema. „Das heben wir uns für die Wahlkampagne auf“, verspricht Jos Scheuer, LSAP-Abgeordneter und Präsident der Parlamentskommission Bildung. Man will keinen Streit mit dem Koalitionspartner riskieren, um nur nicht die Abstimmung der Grundschulreform zu gefährden. Eine interne Arbeitsgruppe soll diskutieren, mit welchen schulpolitischen Zielen die Partei bei den Wahlen im nächsten Jahr antreten will. Wenn es dann nicht mal wie­der zu spät ist.

Ines Kurschat
© 2023 d’Lëtzebuerger Land