Frankenstein

Helikopter im Kopf

d'Lëtzebuerger Land du 05.07.2001

Kommt der Meteorit? Wenn Steve Karier neben einer kleinen Tür in der gigantischen Arbed-Gebläsehalle kniet, sich fest an eine Eisenstange klammert, ein weißes Tuch über den Schultern, dann kann man nicht anders, als an Maurizio Cattelans La Nona Ora zu denken. Die umstrittene Wachsfigur des italienischen Künstlers, derzeit bei Harald Szeemans Biennale-Schau in Venedig zu sehen, wurde am vergangenen 17. Mai bei Christie's New York für rund eine Million Dollar versteigert - bis dahin das beste Re-sultat eines Cattelan-Werkes. Sie zeigt den alten Papst am Boden liegend, an seinen Stab geklammert, von einem Meteoriten getroffen, daneben Scherben eines Fensters. Das Zitat ist offensichtlich, der Bildermacher Franz-Josef Heumannskämper ein transdisziplinär interessierter Regisseur.

Papst Johannes-Paul II. ist ein bekennender Gentech-Gegner, muss er wohl sein, ist doch die Genforschung aus theologischer Sicht eine Gotteslästerung, ein Versuch des Menschen, selbst Leben zu schaffen, also Gott zu spielen. Für Franz-Josef Heumannskämper und die ganze Produktionstruppe der Kulturfabrik ist der Frankenstein-Stoff der Mary Shelley, fast zwei Jahrhunderte nachdem er geschrieben wurde, auch ein Denkanstoß, eine Überlegung zur Biotechnologie (siehe auch d'Land 25/01). Aber nicht nur. 

Es ist, als hätte das Escher Trio den Roman und Michael Farins dramaturgische Bearbeitung so lange destilliert, bis nur noch die schönsten Textpassagen übrig blieben, Monologe der namenlosen Kreatur Frankensteins, deren Poesie in Stummfilm- oder Gruselfassungen des Stoffes einfach untergingen. Und so erkennt man um so deutlicher, dass das Geschöpf kein Monster ist, sondern ein "verwundetes Reh", verloren und ausgestoßen und deshalb nach Vergeltung an seinem Schöpfer sinnend. 

"...mit dem Wissen aber wuchs der Schmerz", stellt es fest, denn das Wissen um den Menschen und um sich bringt es zur Verzweiflung. Steve Kariers Kreatur kennt keine Furcht, die Wut verleiht ihr die Kraft zur absoluten Zerstörung. Und man glaubt dem Schauspieler Steve Karier, kämpft er doch gegen die übermenschlichen Dimensionen - die Distanz, die Akustik  - der riesigen Halle an, das bedeutet, nicht nur mit Kraft, sondern auch noch mit Nuancen spielen zu müssen. Organisch, rund, kahl geschoren ist sein Kopf, besonders in der An-fangsszene auf den Leichentischen, die Antithese zu Jean-Guillaume Weis' geometrischer Frisur und eckigem Kinn. Beide betonen ihre Unterschiede, Sprache und Tanz, Stimme und Körper. Mal sind sie Schöpfer und Geschöpf, mal mad scientists, die mit Legosteinen basteln.

In sechzehn "Schlüsselszenen" geht es während anderthalb Stunden quer durch die zeitgenössische Kulturgeschichte: Karlheinz Stockhausens Helikopter-Quartett dröhnt durch die Halle, und ein Laserstrahl leuchtet deren Elemente aus, als müsse der Blick des Zuschauers auf immer neue Wunder der Industriearchitektur gelenkt werden (die Lightshow dazu ist allerdings ein bisschen zu viel des Guten). Dann wiederum lässt John Carpenter grüßen, Aus-schnitte aus seinen Filmmusiken genügen, um ein ganzes Reich an Assoziationen zu wecken. Denkanstöße. Am Barren spielt Jean-Guillaume Weis augenzwinkernd die Entwicklungsgeschichte des zeitgenössischen Tanztheaters nach, vom klassischen Tanzschritt zur expressionistischen Körpersprache - alles das in dicken Armyboots, und man wünscht sich, er hätte mehr solcher Auftritte gehabt. Dann zieht er die Stiefel fein säuberlich aus, befreit sich von ihnen, legt seine Maske ab, und es entstehen Bilder, die man so schnell nicht vergisst. Adieu Goldoni! Ciao ciao, Diener zweier Herren! Endlich ist auch der blasierteste Theatergänger mit der Gebläsehalle als Spielstätte versöhnt.

 

Frankenstein, nach dem Roman von Mary Shelley; Dramaturgie: Michael Farin, Spielfassung: Farin/ Heumannskämper/ Karier/ Weis; Regie: Franz-Josef Heumannskämper; mit Steve Karier und Jean-Guillaume Weis; Bühne: Diane Heirend; Kostüme: Ute Paffendorf: Choreographie: Jean-Guillaume Weis und Franz-Josef Heumannskämper; Regieassistenz: Marion Rothhaar; Produktion: Kulturfabrik; weitere Vorstellungen am 8., 9. und 12. Juli, jeweils um 21 Uhr in der Gebläsehalle auf Esch-Belval; Telefon für Reservierungen: 55 88 26. Buspendeldienst ab Parking Esch/Raemerich.

 

josée hansen
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